Freitag, 28. Oktober 2011

Ein Selbstexperiment - Augsburg, 28. Oktober 2011

Erfahrungen einer "neuen Figur"...


In Augsburg am Marktplatz, ca. 14:00 Uhr. Ich setze mich auf eine Bank, öffne den alten Koffer und esse erst einmal eine Semmel. Ein „Akrobat“ – wie er sich selbst bezeichnet – spricht mich auf meinen alten Koffer an. Was darin sei, ob ich Zauberer sei? Ich sage die Wahrheit: Es sind nur Klamotten drin. Er erzählt kurz von sich und geht weiter. 

Neben mir zwei Frauen. Die eine saß vor mir da, die andere kam nach mir dazu. Ich beginne, mein Gesicht weiß zu schminken. Langsam und mit Bedacht. Ich tue es, ohne Aufmerksamkeit bekommen zu wollen. Es ist ein Selbstversuch. Kein Geld. Nur Schminken, um deutlich zu machen, dass es um eine „Performance“, um einen Bruch in der Wirklichkeit geht. Um zu zeigen, dass ich nicht einfach nur ich bin. Wem ich das eigentlich zeige, weiß ich da noch nicht.

Ich bin fertig und trage Kajal auf. Dann die Lippen rot. Mein rot, aber eben Maske und plakativ. Nicht überzeichnet. Ich ziehe mir das weiße Hemd an, setze mir den schwarzen Hut auf. Jetzt kommt der heikelste Teil. Die zweite Dame, die nach mir gekommen ist, hat sich bereits mit einem unverständlich genuschelten Kommentar verabschiedet. Ich mache meine Hose auf. Leicht entschuldigend schaue ich zu der verbleibenden Dame, die offensichtlich amüsiert neben mit sitzt und mein „Muss sein“. „Solange Sie sich nicht ganz ausziehen...“. „Nein, keine Sorge“. Na dann. 

Eine Gruppe Jungs, die mich offensichtlich beobachtet, pfeifen, als ich die Hosen runterlasse. Natürlich trage ich eine knielange Schort. Ich schlüpfe in die schwarze Hose, ziehe die schwarze Weste an, knöpfe sie in aller Ruhe zu, dann das Seidentuch, die Schuhe und zu guter Letzt den Frack. Alles sehr bewusst und in Ruhe. Dann die schwarzen Handschuhe. Von „mir“ ist jetzt nichts mehr zu sehen.

Meine „zivilen“ Klamotten stecke ich in den Koffer, schließe ihn und stelle ihn neben mich. So sitze ich kurz und schaue, was passiert. Nichts. Äußerlich zumindest. Innerlich hat sich alles verändert. Noch weiß ich nicht genau, was. Ich stehe langsam auf, schaue die Frau neben mir an, reiche ihr die Hand und wünsche ihr einen guten Tag. Langsam, sehr langsam gehe ich los. 

Es ist, als wäre ich gerade auf diesem Planeten gelandet. Alles neu. Die Menschen beängstigen mich. Ich humple. Nicht absichtlich. Ich schleife mein linkes Bein hinterher. Mein Rücken ist verspannt; der Koffer schwer. So gehe ich die Fußgängerzone entlang und nehme war. Ich lasse „ihn“ sein, wie er ist. Scheu, ängstlich und mit großen Augen. Ich beobachte die Menschen und ihre unterschiedlichen Reaktionen. Manche lächeln, manche weichen mir aus, manche zeigen auf mich. 

Die größte Überraschung? Ich kann keine Miene verziehen. Und: ich bringe keinen Ton raus. Interaktionen finden nur per Blick, Deuten und Nicken, bzw. Kopfschütteln statt. Ich sehe mich in einer Schaufensterscheibe und erschrecke. Keine Mimik. Ein leeres Gesicht. Bis auf die Augen. Die leben. Ich, oder besser: er lässt sich von jedem neuen Eindruck ablenken und folgt diesem, bis ein anderer Reiz neuer oder interessanter ist. Und alles ist interessant. Ich stehe vor einer Wand und nehme sie neu war. Ich schaue Menschen an und staune. Autos erschrecken mich. An einer Ecke renne ich fast in eine schwarze Frau. Wir erschrecken beide. Ich lasse alle Gefühle ungebremst zu und durch mich durch. Es ist, als gäbe es mich (Thomas) nur noch als „Notfallinstanz“. Ich bin mir dessen die ganze Zeit bewusst und weiß, dass ich das Experiment jederzeit abbrechen kann. Auf der anderen Seite hat „der neue“ schon das Ruder übernommen. Er lernt. Dass man bei „Grün“ über die Straße geht. Dass Autos gefährlich sind. Das man angeschaut wird. Dass die Menschen in den Kontakt treten, oder scheu sind. Das Eltern auf ihn zeigen und ihren Kindern irgendetwas sagen. Die Kinder schauen meistens neugierig aber emotionslos herüber. Aus einer sicheren Entfernung. Er schaut ebenso zurück. Oft setzt er sich auf eine Bank. Eingeschüchtert, verloren, neugierig. Manchmal läuft er vor Menschen davon, wenn er ihnen zu nahe kommt und nicht ausweichen kann. Es ist alles neu. Einer spricht ihn an: Wohin die Reise gehe? Kurz bin ich wieder auf dem Plan. Teilweise zumindest. Ich verstehe, übersetze, er reagiert: deutet mit der Hand in eine Richtung.

Interessant ist: Sobald andere mit ihm in verbalen Kontakt treten, tritt er ein wenig zurück um „mich“ zu Hilfe zu holen; zu übersetzen. Sprache macht keinen Sinn. Selber sprechen ist unmöglich. Ebenso, wie es praktisch unmöglich ist, das Gesicht zu bewegen; jeder Millimeter fühlt sich fremd an; fast schon wie Gewalt gegen sich selbst.

Er verlässt die Fußgängerzone, geht an Straßen entlang. Cafes, Geschäfte, Büros. Er nimmt alles zum ersten Mal war. Was die Menschen da tun? Spielt keine Rolle! Sie sind halt da. Einmal setzt er sich auf eine wackelige Bank, bestehend aus zwei Snow-Boards. Sitzt da, verloren, traurig, neugierig, zufrieden. Zeit scheint auch keine Rolle zu spielen. Menschen gehen oder fahren an ihm vorbei, schauen ihn an. Lächeln, schütteln den Kopf, zeigen auf ihn. Auf einer Bank in einem Abschnitt des Stadtmarktes, in dem alle Buden geschlossen sind beobachtet er die wenigen Menschen, die vorbeihasten. Der Ort ist schön. Das scheinen die anderen nicht so zu sehen. Einer verliert seine Sonnenbrille. Er merkt es erst, als derjenige nach zwei Minuten zurück kommt und sie an der Stelle aufhebt, an der er sie anscheinend verloren hat. An einer Kreuzung wirft ihm ein beeindruckend aussehender Mann auf einem Fahrrad ein „Grande mascera, grande mascera!“ zu. „Er“ erschrickt, „ich“ fühle mich geschmeichelt.

Einmal herrschen ihn zwei aufdringliche junge Männer an: „Los renn halt wieder“. Hier passiert der einzige wirkliche Bruch in der Figur. Er tritt zurück, ich beschließe, auf sie zuzurennen und schreie dabei. Der eine bleibt stehen. „Uh, da habe ich aber jetzt wirklich angst“. Ich erinnere mich, dass ich immer spielerisch und wertschätzend mit den Menschen umgehen wollte, die mit mir in den Kontakt treten. Gleichzeitig ärgere ich mich über die „platte Anmache“. Ich berühre seine Schulter und sage „Ich mag Dich“. Jetzt ist Angst in seinen Augen und seiner Stimme wahrzunehmen. „Finger weg!“ droht er leise. Ich nehme meine Hand weg, drehe mich um und tief aus mir kommt ein leises, dreckiges Lachen. Es dauert kurz, dann kommt „er“ zurück, der das alles aus einer gewissen inneren Distanz beobachtet hat. Wie gesagt: ein Bruch. Der einzige.

Nach ca. zwei Stunden wird er müde. Es ist klar: Er – und inzwischen wieder ein bewusster und aktiver Teil von mir – beginnen einen Platz für die „Rückverwandlung“ zu suchen. Von Anfang an stand fest, dass auch das in der Öffentlichkeit passieren würde. Es fühlt sich so an, als würden wir „gemeinsam“ eine passende Grünfläche suchen. Dabei gerät er in den Friedhof und ist gezwungen, eine Runde zu drehen. Ich bin wieder nur Beobachter. Er handelt. Es kommt ein erstes, vorsichtiges Gefühl außer Scheu auf. Trauer. Kurz aber deutlich spürbar. Schnell raus hier.

Nach weiteren 10 Minuten findet sich eine Bank am Rand vom Stadtpark. Hinter mir eine stark befahrene Straße, vor mir ein Radweg. Ich setze mich, öffne den Koffer, schminke mich ab, ziehe mich wieder mit bedacht um und packe „seine“ Klamotten und die Schminksachen wieder in den Koffer.

Ich bin wieder ich. Ich bin mir bewusst, dass „er“ im Koffer ist. Ich bin froh und traurig zugleich. Die Welt ändert sich recht flott zu der zurück die ich so gut Kenne; deren Konventionen ich in Fleisch und Blut habe. Autos sind Autos, Menschen sind Menschen und ein Blickkontakt mit einem Fremden darf nicht zu lange dauern. Ich brauche eine viertel Stunde zum Bahnhof, steige in den Zug und Fahre zurück nach München.

Zwei Tage später ist klar: Das Experiment hat zwei Hemden verschwinden lassen (aber das ist eine andere Geschichte) und „er“ wird weiter leben. In absehbarer Zeit. An einem anderen Ort. Vielleicht auch mal mit einem anderen Performer zusammen. Ich bin gespannt, wie es dann weiter geht: was er sieht, ob und welche Gefühle er entwickelt, ob er sprechen lernen wird, ...