Samstag, 2. November 2013

Gefühlszustand

Augsburg, 2. November 2013, 14:00 in einem vollen Café:

Es war wie immer. Und dann auch wieder gar nicht. 

Sachen zusammensammeln; in den Koffer damit; zum Hauptbahnhof (diesmal nicht München, zu viel was "ich" damit verbinde). 

Zug nach Augsburg; Rosenheim wäre eine Alternative gewesen, aber mein Bauch sagt Augsburg.

Im Zug ein paar Fragen wie "warum mache ich das?" oder "ist der Abstand zu lang zwischen den einzelnen Verwandlungen?". Die Fragen sind schnell beantwortet. Ich mache es, weil der Impuls da ist (diesmal war gestern schon klar, dass ich heute laufen werde) und ich mache es so selten, weil es keinen Grund gibt es zu tun, wenn der Impuls nicht da ist. Kurz frage ich mich, ob die Antworten nicht zu einfach sind; ob ich nicht eine regelmäßige Praxis daraus machen sollte. Immerhin hätte "er" dann die Möglichkeit sich schneller zu entwickeln. Ich verwerfe die Idee. Zum einen ginge es dann mehr um meine Disziplin als um seine Existenz und zum anderen hätte ich Sorge, dass "er" dann unter meiner Unlust leiden müsste. Ich beschließe, genau deswegen ein mal zu Laufen, wenn gar kein Impuls da ist; aber eben nicht heute, denn heute ist er ja da, der Impuls. 

Der Zug kommt in Augsburg an. Ich steige aus und lasse mich treiben. Es ist wenig Aufregung da. Genau genommen: gar kein.

Ich laufe auf den Prinzregentenplatz zu und sehe Bänke (es ist nass, muss vor kurzem geregnet haben). Ich suche mir die trockenste aus. Bewusster und langsame als alle Male zuvor schminke ich mich, ziehe mich um, verstaue meine Sachen im Koffer. Es ist unspektakulär.

Ich laufe los. In einer Glastüre sehe ich mich, oder besser: ihn. Er ist da. Wie üblich: extrem kleine und langsame Schritte, leicht gebückte Haltung, schleppender Gang, angespannte Schultern.

Ein Unterschied: Ich spüre ihn genauer und kann ihm mehr Raum geben als bisher. "Ich" bin komplett entspannt. Er hat nur körperliche Wahrnehmungen und Impuls. So klar war die Trennung zwischen ihm und mir noch nie. 

Vielleicht liegt es an den 5 Tagen Action Theater Training bei Sten Rudstrom vor nicht mal einer Woche. 5 Tage embodyment. 5 Tage im Körper sein. 5 Tage nicht "labeln" sondern erfahren und erleben.

Es mag diese Klarheit sein, die es ihm ermöglicht, das erste mal so etwas wie ein eigenes "Gefühl" zu entwickeln. Ich erinnere mich, dass bisher die identifizierbaren "eigenen" Gefühle meistens von mir aus gingen: die Sorge, dass ihn jemand anspricht; die Hektik, wenn ein Platz für die Rückverwandlung her muss, usw.

Und die Einsamkeit und Leere, die sonst und auch diesmal da ist? Sie ist eine Grundstimmung aber kein Gefühl. Das merke ich, weil diesmal etwas anders ist. Es ist eindeutig mehr als nur Körperwahrnehmung und Körperimpulse. Und es ist mehr als eine Grundstimmung.

Wieder ist es Action Theater und eine Unterscheidung, die in den 5 Tagen Workshop immer wieder hilfreich war: Die  zwischen "Feeling State" und "Emotion". Feeling State: ein Gefühl, oder besser eine Gefühlsveränderung spüren ohne sie zu benennen. 

Sein Gefühlszustand hat ihren Ursprung im Gesicht. Es spannt sich über die Zeit immer mehr an. Zuerst ist es mir nicht bewusst. Dann werde ich aufmerksam, weil einige Muskeln im Gesicht schmerzen. Er spürt diesen Schmerz nicht. Er ist im Gesicht; erlebt Mimik. Ich will mich entspannen, merke aber schnell, dass es nicht "meine" Anspannung ist. Er ist angespannt. Ich lasse ihn und beobachte. Über geraume Zeit entwickelt sich so etwas wie ein unterscheidbares Gefühl. Müsste ich es benennen, würde ich es am ehesten Wut nennen. 

Ich beobachte weiter und lasse ihn machen. Und das erste Mal seitdem er existiert kommt ein Ton aus seiner Kehle. Nicht weil ich oder die Situation ihn dazu zwingen. Einfach nur als Ausdruck dieses "Gefühlszustandes". Ein stimmhalftes Schnauben, eine art Grollen. 

Er sieht sich wieder in einem Fenster. Ich erschrecke. Die sonst so "feinen" Züge sind weg. Eine art fleischige Maske in Weiß schaut mich und ihn an. Irgend etwas hat sich verändert. 

Er sieht eine niedrige Steinmauer und setzt sich. Langsam lässt die Anspannung nach, das "Gefühl" verflüchtigt sich. Er sitzt da, müde, ohne Impuls. Wieder "der alte".

Nach einer ganzen Weile geht er weiter. In einer engen Gasse schaut eine alte Frau aus dem Fenster im dritten Stock. Er sieht sie und bleibt stehen; schaut sie an. Sie schaut eine Weile, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern; er genau so. Sie nickt fast unmerklich. Er verbeugt sich leicht, fasst sich an den Hut und geht weiter. 

In einem kleinen Park hinter einer alten Backsteinmauer. Eine Bank, die fast trocken ist. Er stellt seinen Koffer ab, setzt sich; schaut in den Himmel. Ich lasse ihn obwohl sich bei mir der Plan formt, sich zurückzuverwandeln. der ideale Platz. Er bekommt es mit und das erste mal in seiner Existenz spüre ich Widerstand. Er will sitzen und schauen. Den Wind spüren. Dem Laub zuhören. Sein. 

Ich übernehme. Ziehe mich um; schminke mich ab; und bin wieder ich. Ich lasse ihn nachklingen. So unspektakulär es war, so fein und neu war es auch. Er war klarer da; deutlicher und abgegrenzter. 

Jetzt beim Schreiben habe ich den Gedanken, dass meine Fragen, meine Unsicherheit und mein "den anderen zugewandt sein" ihm diesmal weniger als bisher im Weg standen. Mehr Klarheit bei mir, mehr Raum für ihn, mehr er.

Wieder sitze ich da und bin gespannt, wann und wie es weitergeht. Ich zahle, gehe zum Bahnhof und fahre nach München zurück.

Sonntag, 12. Mai 2013

München, 12. Mai 2013 - Der Hund der Fluss und ich...

Es ist Sonntag Morgen, 8:00 Uhr und ich beschließe sehr spontan, die Figur laufen zu lassen. Nicht, wie sonst aus Lust, sondern, weil ich wissen will wie es ist wenn es aus "Routine" passiert. Ich werfe alle Sachen zusammen (die Brille werde ich vergessen, das finde ich aber erst beim Umziehen heraus und es passt zu den "erschwerten" Bedingungen) und gehe aus dem Haus. Schon seit einiger Zeit stelle ich mir vor, wie es wohl aussieht, wenn die Figur an der Isar "spazieren geht". Also gehe ich Richtung Brudermühlbrücke. In den Isarauen suche ich nach einer Bank auf der ich mich umziehen und schminken kann.


Ich finde sie, etwas abseits und die Verwandlung beginnt. Allerdings sind diesmal einige Sachen anders. Zum einen bin ich nicht in der Zivilisation sondern in der Natur. Das macht die wenigen Begegnungen (Vater mit Kinderwagen, ein Nordic Walker) um einiges "intimer". Die Leute haben Zeit und es gibt keine "gemeinsame" Geschwindigkeit an die alle gebunden sind. Also bleiben sie stehen und schauen unverhohlen zu. Das passiert an belebten Plätzen normalerweise nicht.

Der zweite Unterschied ist, dass ich -bis ich mich zurück verwandeln werde- keinen Spiegel sehen werde und damit einen Teil der Verwandlung gar nicht durchmachen kann. Der Taschenspiegel, den ich zum Schminken verwende ist nicht groß genug, um einen Eindruck von der ganzen Figur zu bekommen.

Außerdem ist die Figur ihre ganze diesmalige Existenz fast keinen Hindernissen ausgesetzt.

Es fällt mir schwer in den Hintergrund zu treten. ständig "brabbelt" mein Gehirn und benennt und bewertet die Dinge, die die Figur sieht. Diesmal ist es eher ein Kampf, mich der Figur zu überlassen.

Als ich nach der Rückverwandlung auf die Uhr schaue ist es nach 10:00. Ich bin überrascht. Und ich stelle fest, das die Phasen, in denen ich es doch "in die Figur" geschafft habe wohl länger waren, als ich dachte.

Der Weg: Ich gehe über die Brudermühlbrücke. Schritt für Schritt, eine Hand am Geländer. Wenn "er" da ist, ist er wie hypnotisiert vom Strom der Autos und deren Lichter, die ihm auf dem dreispurigen mittleren Ring entgegenkommen. Mal wieder teilt ein Geländer seine Wirklichkeit. Rechts der laute Auto-Strom. Links Grün und fast nichts. Einige Autos hupen oder blenden kurz auf. Er bezieht es nicht auf sich.

Und immer wieder komme "ich" dazwischen. Mein innerer Kritiker, der fragt, was das hier eigentlich soll. Gedanken an die vergangene Woche, in der ein paar emotional anstrengende und unschöne Dinge passiert sind. Die Frage, ob die Menschen, mit denen ich Ärger hatte mich albern fänden, wenn sie sehen könnten, was ich gerade tue. Die Frage meines inneren Kritikers, ob ich meine Zeit nicht sinnvoller nutzen könnte (seine Lieblingsfrage:-)

Was für eine Übung. Erschwerte Bedingungen! Wenig innere Vorbereitung, viel innere Ablenkung, wenig äußere Aufgaben.

Ich schaffe es dennoch immer wieder in den Hintergrund zu treten und die Figur sein und führen zu lassen. Ich merke es an der veränderten Wahrnehmung und den Reaktionen der Umwelt.

Natürlich sind Sonntag Morgen an der Isar vor allem Hundebesitzer und Jogger unterwegs. Die Hunde interessieren ihn. Einmal bleibt ein brauner kniehoher Hund genau in seinem Weg stehen. Das Pärchen, dem er gehört bleibt auch stehen und schaut. Die Figur bleibt stehen und schaut dem Hund in die Augen. Der Hund schaut ohne zu Zwinkern zurück. Keine Regung, keine Aggression, keine Angst. So stehen die vier eine Weile da. Das Herrchen fragt irgendwann (ermutigend und wohl in Richtung des Hundes) "Ja und jetzt?". Der Hund schnaubt kurz aus, schüttelt den Kopf und bleibt stehen. So auch die Figur. Nach einer ganzen Weile schaut der Hund ein paar mal zwischen den Besitzern und der Figur hin und her und geht los. An der Figur vorbei. Das Pärchen lacht und geht weiter. Die Figur auch.

Ein anderes mal steht ein kleiner Hund da und schaut einem anderen nach. Die Besitzerin ist schon weiter gegangen. Irgendwann ruft sie mehrmals penetrant laut nach "Joey". Der hört erst nicht, merkt aber, dass seine Besitzerin nicht aufgibt. Er dreht sich unvermittelt in deren Richtung um und rennt los. Auf seiner Kopfhöhe ist allerdings die Unterkante meines Koffers. Er scheint weder mich noch den Koffer wahrgenommen zu haben und rennt ungebremst gegen den Koffer. Ein dumpfer Schlag, ein kurzes Winseln, der Hund rennt zu seiner Besitzerin. Die Figur ist davon vollkommen unberührt. Ich allerdings habe Mitleid mit dem Hund und finde die Situation gleichzeitig sehr komisch. Dann ruft die Besitzerin hinter mir auch noch, wie saublöd das denn sei und wie alt man den werden müsse? Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückhalten und muss kurz lachen. Nach kurzen Sinnieren, ob sie mit dem Schimpfen die Figur oder den Hund gemeint hat, und was diese Situation mit dem Alter zu tun hat, schaffe ich es, wieder in den Hintergrund zu treten und die Figur steuern zu lassen.

Jetzt fällt "ihm" das erste mal die Isar auf. Sie fließt deutlich schneller als er geht. Und für den Rest der Strecke fesselt ihn genau das. Sein Blick ist vom fließenden Wasser gebannt. Er stolpert mehrmals, weil er nicht auf den Weg schaut und wird deutlich schneller. Irgendwann bleibt er stehen geht nah ans Wasser, stellt den Koffer ab und schaut; lässt das Wasser vorbeiziehen. Das einzige Mal, dass eine Gefühlsregung in ihm aufkommt: Traurigkeit und Sehnsucht. So steht er eine Weile da. Irgendwann stellt sich ein Mann genau neben ihn. Schaut auch auf den Fluss. "Er" nimmt ihn nur war, der Mann stört ihn nicht. So stehen sie eine Weile nebeneinander und schauen auf den Fluss. Beide regungslos. Nach einigen Minuten geht der Mann weiter, die Figur bleibt noch eine Weile stehen, nimmt dann den Koffer und geht weiter.

Unter der Wittelsbacherbrücke wird klar das es für heute reicht. Größtenteils war es anstrengend und ich gehe immer noch davon aus, dass es maximal eine Dreiviertel Stunde war. Ich setze mich auf die Steinstufen direkt am Wasser, schaue eine Weile und öffne irgendwann den Koffer um mich abzuschminken und umzuziehen. Jetzt nehme ich die anderen Menschen plötzlich war. Es sind sehr viele für einen Sonntagmorgen. Auch einige Spaziergänger ohne Hunde. Mein "Umziehen" weckt Interesse, einige bleiben stehen und gucken; neben mir und auf der Brücke. Eine Frau geht nah an mir vorbei und lächelt mich an. Wieder wird mir klar, dass die Verwandlung und die Rückverwandlung für Außenstehende wohl ungewöhnlicher sein muss, als die Figur selbst. Die kann man einordnen: weiß geschminkt, schwarz angezogen - aha, ein Künstler.

Aber sich in der Öffentlichkeit umziehen und schminken oder eben abschminken passt in kein Bild und ist schon deutlich gegen die Konventionen.

Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass ich mindestens 90 Minuten unterwegs war. Mehr als alle Male zuvor frage ich mich, was ich hier tue? Ich muss an der Film "Holy Motors" denken. Die Grenzen zwischen den Wirklichkeiten verschwimmen. Was ist die wirklichere Wirklichkeit?

Klar ist, dass es jedesmal eine Erfahrung ist, die ich danach nicht missen möchte. Selbst wenn es mir, wie diesmal, schwer fällt in die Figur zu kommen. Klar ist auch, dass es immer auch eine Übung ist, das "Ich" loszulassen und in eine nichtwertende Wahrnehmung zu kommen.

Jetzt sitze ich im Café, schreibe diese Zeilen und bin einfach nur gespannt, wie es weitergehen wird mit der Figur.

Mittwoch, 30. Januar 2013

Intermezzo 2 – Außerirdisch in München

Tobias hat sich auf einen Besuch angemeldet. 

Tobias ist aus St. Gallen. Ich kenne ihn von einem dreiwöchigen Sommerworkshop mit Ruth Zapora in Santa Fe, NM. Er ist Gründer und Leiter des Playback-Theater. St. Gallen und macht auch sonst viel: Beratung, Therapie, Coaching... Ich freue mich sehr, dass er zu Besuch kommt.

Wir sitzen bei uns in der Küche und ich frage ihn, was er sehen will in München. Schnell stellt sich raus: er würde neben dem „normalen“ Programm gerne irgendwas auf der Straße machen. Wir überlegen. Bild? Sehr aufwändig. Figur? Leichter zu organisieren. 

Nach einem Spaziergang durch die Stadt (Touristenprogramm muss sein) sind wir wieder Zuhause und sammeln ein, was wir brauchen: Schwarze Anzüge. Einen für ihn, einen für mich. Hüte. Er entscheidet sich für den Zylinder. Schminkutensilien. Ohne es beabsichtigt zu haben, habe ich alles in zweifacher Ausführung zu hause.

Schon in den Anzügen – Hüte und Handschuhe in der Hand, Schminkzeug in der Jackentasche – fahren wir mit der U-Bahn zum Odeonsplatz. Wir gehen nach oben. Es stürmt. Der Diana Tempel im Hofgarten bietet annähernd Schutz. 

Vorher hatten wir verschiedene Sachen ausgemacht. Unter anderem würde ich in meiner „normalen“ Präsenz anwesend bleiben, um immer mal wieder einen Blick auf ihn zu werfen (was das heißt erfahre ich erst als es soweit ist).

Schon bei der „Verwandlung“ – in erster Linie Schminken – sprechen wir nicht mehr. Ich bin vor ihm fertig. Auch diesmal brauche ich keinen Blick in den Spiegel, um in die „andere“ Wirklichkeit einzutauchen, die der Figuren. Nicht ganz eintauchen, so wie sonst, wenn ich alleine unterwegs bin. Ich beobachte Tobias – oder besser den, der er jetzt geworden ist – aus dem Augenwinkel und versuch dabei in der Präsenz meiner Figur zu bleiben. Eine neue Erfahrung. Schon jetzt ist es kein „entweder oder“-Gefühl mehr, so wie es mit der anderen Figur ist. Diesmal sind immer beide da. Ich bin präsent, die Figur ist präsent. Und: es ist nicht die Figur in der ich sonst unterwegs bin. Die Klamotten sind weniger „förmlich“, weniger „schwer“.

Was ist der Unterschied zur anderen Figur, der in Frack? Diese Figur ist „agiler“, weniger langsam. Aber auch weniger geerdet und stabil. Ich trete aus dem Tempel heraus und ich muss mit mehreren, stolpernden Schritten ausgleichen, weil der Wind mich fast umwirft. Es zieht mich zum Licht. Ich (oder besser die Figur) würde gerne schnell loslaufen; in Richtung der Menschenmenge auf dem Odeonsplatz.

Geht aber nicht. Den mein normales Ich hat eine Aufgabe: den Kontakt zu Tobias zu halten. Durch meine Figur. Das erste Mal schaue ich mich nach ihm um. Kein Kontakt. Er steht regungslos vor dem Diana Tempel. Schon jetzt wird klar: seine Figur und meine haben sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten. Für die nächste Stunde (so lange werden wir etwa unterwegs sein) habe ich einen permanenten Konflikt zwischen meinem „normalen“ Ich und meiner Figur. Einmal steht er eine gefühlte viertel Stunde (meine Einschätzung – die Figur kennt keine Zeit; sie hat nur den Impuls, weiter zu gehen) vor einer Bronzestatue eines sitzenden Löwen; regungslos. Ich muss warten. Meine Figur will weiter.

Was ich dabei bemerke: Der Übergang ist fließender. Wenn ich alleine unterwegs bin sind die Wechsel zwischen meinem normalen ich und der Figur deutlicher; immer nur einer hat die Führung. Durch die Situation des im Kontakt Bleibens zwischen mir (Tom) und der Figur von Tobias sind „in mir“ beide, ich und meine Figur, gleichermaßen anwesend und es gibt keinen eindeutigen Wechsel. Eher eine Art gleichzeitige aber geteilte Aufmerksamkeit: die dritte Referenz, die Figur von Tobias hat von beiden die Aufmerksamkeit. Bisweilen verschwimmt es. Meine Figur erkennt seine als jemanden ähnlichen. Immer wieder „gehen“ beide gemeinsam und meine Figur genießt es. Immer wieder komme ich ins Spiel und „sehe“ das Bild der beiden vor dem inneren Auge und lasse mich, bzw. die Figur davon leiten. Eine Art Pas de deux von zweien, die nicht hier her gehören. 

Bemerkenswert ist auch, dass meine Figur zwei Mal von Menschen angesprochen wird. Einmal von einem offensichtlich verlorenen, stark alkoholisierten jungen Mann, der nur gebrochen Deutsch spricht. Weder ich noch meine Figur verstehen, was er will. Ich entscheide, die Figur antworten zu lassen. „Ich weiß nicht“ sagt sie zwei oder drei mal sehr friedlich, sehr langsam und sehr ehrlich. Was soll ich auch tun. Ich habe ihn tatsächlich nicht verstanden und immerhin begleite ich ja schon jemand anderen. Der junge Mann geht weiter.

Kurz darauf spricht mich eine Touristin an. Auf Englisch. Asiatisches Aussehen, sehr teuer gekleidet. „Maximiliansstraße?“ will sie wissen. Wir stehen genau am Anfang der Maximiliansstraße. Ich entschließe mich wieder, die Figur antworten zu lassen. Sie deutet langsam die Maximiliansstraße hoch. Die Touristin will wissen „how many minutes?“. Ich entscheide „zwei“, die Figur hebt langsam die Hand und zeigt zwei Finger. Die Touristin bedankt sich mehrmals auf Englisch und in einer mir unverständlichen Sprache und geht weg.

Was mich im Nachhinein überrascht, ist dass beide Menschen anscheinend das ungewöhnliche Verhalten und Aussehen der Figur gar nicht als „unnormal“ wahrnehmen; im Gegensatz zu allen anderen, die unsere Existenz in ihrer Geschwindigkeit und Zielorientierung größtenteils gar nicht wahrnehmen.

Im Gespräch danach stellen Tobias und ich fest, dass beide Menschen, die meine Figur angesprochen haben – ähnlich wie die Figuren selbst – nicht Teil der „normalen“ Wirklichkeit mit ihrer Geschwindigkeit und ihren Konventionen sind. Der eine rausgefallen, weil verloren und alkoholisiert, die andere, weil offensichtlich fremd und anderes gekleidet. Beide hatten definitiv nicht das Erleben, Teil der um sie herum stattfindenden Realität zu sein. So geht es meiner Figur auch. Vielleicht liegt darin eine Antwort. 

Nach einer Stunde – es hat inzwischen begonnen zu regnen und ist eisig geworden – stupst mich Tobias (er muss es sein, denn es ist definitiv nicht die Energie seiner Figur – dieses „alten“ Mannes in zu großem Anzug und mit Zylinder, den ich jetzt die ganze Zeit in seiner Langsamkeit begleitet habe) von hinten an und deutet auf den U-Bahn Eingang. Ich verstehe, was er will und lasse meine Figur seine Figur zur Toilette im Rathaus führen. Es ist anstrengend. Meine Figur empfindet das als starken Zwang durch mich. Zielgerichtet und schnell. Für meine Figur ist es unangenehm. Ich allerdings weis, dass es nötig ist. 

Die Toilettenfrau ist schon am Schließen; hat schon geputzt. Wir bitten Sie, uns noch kurz abschminken zu dürfen. Sie ist alles andere als begeistert. Ich kann sie gut verstehen, bleibe aber hartnäckig. Wir schminken uns ab, sie lässt uns in Ruhe. Langsam verschwindet meine Figur und ich stelle verschiedene Dinge fest: Ich bin total durchgefroren. Die Figur war das nicht, sie kennt Frieren nicht. Sie hat sich nur den Kragen zugehalten, weil das irgendwie besser war bei Regen und Gegenwind. Ich habe einen irren Hunger. Meine Figur hatte nur irgend wie einen unangenehmen „Stimulus“ im Bauch. Ich bin müde und angestrengt. Meine Figur hat davon gar nichts gespürt. 

Wir bedanken uns bei der verständlicherweise schlecht gelaunten Toilettenfrau und treten raus auf den Marienplatz. Ich schlage Tobias vor, noch einen Kaffee trinken zu gehen und über die Erlebnisse zu reden. Ich bin neugierig. Was hat er, bzw. seine Figur erlebt? Wie hat er oder seine Figur meine Figur wahrgenommen? Wir sitzen eine Stunde im Café, ich stelle Fragen er antwortet mit viel Bedacht. Ich bin ihm unglaublich dankbar. Ich höre die Erfahrungen eines anderen, der feinfühlig, mutig und erfahren genug ist, sich auf dieses Experiment einzulassen. Und: er hat es initiiert. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, das anzubieten. Ein zweites Mal (nach dem Filmen beim letzten Mal) bekommt die jeweilige Figur etwas „wirklicheres“, weil es auf die eine oder andere Art Zeugen gibt. Außerdem geben Tobias’ Antworten mir die Chance, die ganzen Erfahrungen anders zu reflektieren.

Als wir wieder in die U-Bahn steigen wird uns beiden bewusst, dass wir wieder vollkommen „zurück“ sind in der Normalität. Hauptsächlich merken wir es an der Geschwindigkeit und Zielorientiertheit, die uns jetzt auch wieder erfasst hat. Die Figuren kennen das nicht. Woher auch? 

Bevor Tobias am nächsten Tag wieder nach St. Gallen fährt frage ich ihn, ob er wohl Lust hätte, seine Erfahrungen aufzuschreiben und sie mir zu schicken, damit ich sie hier in den Blog veröffentlichen kann. Aufgeschrieben habe er sie schon, sagt er lächelnd und zwei Tage später habe ich die Mail:

"Gerne halte ich die Erkenntnisse meiner 1. Strassenperformance für dich kurz fest:

Als neutrale Figur d. h. schwarz gekleidet mit weissem Gesicht und rötlich gefärbten Lippen tauchte ich ein in eine Welt, die als Parallelwelt in den Strassen von München existiert. Staunend nahm ich Notiz von einem ruhelosen München, dass sich mir fremd und manchmal auch feindselig präsentierte. Auffällig war, wie die Leute an mir vorbei hasteten. Sie schienen ein Ziel zu verfolgen. Irgendwo in der Ferne oder Nähe schien etwas zu sein, zu dem sie sich magisch hingezogen fühlten und das sie alle möglichst schnell erreichen wollten. Hier, wo ich mich befand war jedoch nichts, das sie für beachtenswert empfanden. Meine Person wurde kaum wahrgenommen. Das überraschte mich als Tobias sehr. Als Figur störte es mich nicht. Ich war fremd hier, fühlte jedoch auch nicht das Bedürfnis mit dieser Welt, die mich gerade umgab, in einen wirklichen Dialog zu treten. Das war ein Gefühl von Freiheit aber auch Einsamkeit. Zu meinem "Zwillingsbruder" (die Figur von Tom) auf der anderen Strassenseite bestand eine sehr lose Verbindung. Immerhin gab sie mir jedoch das Gefühl, dass meine Welt, diese Parallelwelt, nicht von mir alleine bevölkert wurde. Ein betrunkener Junkie und eine asiatische Touristin haben die Figur von Tom auch tatsächlich angesprochen. Alle anderen "normalen" Bürger behandelten uns meist wie Luft. Ganz selten erlebte ich ein scheues Lächeln oder einen kurzen Blickkontakt als kurzen Brückenschlag zwischen meiner und der anderen Welt.

Als ich mich auf der Toilette abschminkt hatte und wieder auf die Strassen von München zurückkehrte, war auch die Parallelwelt, in der ich mich eben noch befunden hatte, weg. Ich war wieder im ganz normalen München gelandet und hatte die Parallelwelt mit ihrer anderen Gegenwart weit hinter mir gelassen. Das war eine ganz neue Erfahrung!

Als Playback-Theater Spieler wurde mir auf ganz neue Art bewusst, wie identitätsstiftend Geschichten sind. Aus vielen kleinen Geschichten entsteht die Geschichte einer Gesellschaft. Mit meiner Figur verliess ich die "normale" oder "offizielle" Gesellschaft und tauchte ein in eine Welt mit einer ganz anderen Geschichte. Als meine Figur fühlte ich mich zeitweise wie ein Ausserirdischer, der Mitten in München gelandet war und diese Stadt gerade eben erst kennen lernte. Ich war ganz klar keiner von denen, die da so hastig an mir vorbei gingen oder mit dem Fahrrad vorbei fuhren. Auch wenn ich als schwarzgekleidete Person neutral in Erscheinung treten wollte, so war ich nicht wirklich neutral. Ich fühlte mich als ziemlich alten und etwas gebrechlichen Mann. Für die Erforschung der Geschichte meiner Figur hatte ich als Tobias keine Zeit. Doch mir ist jetzt klar, dass meine Figur auch eine Geschichte hatte, die in dieser Parallelwelt angesiedelt ist, welche ebenfalls in den Strassen von München existiert. Sie wird von den "normalen" Menschen kaum wahrgenommen und gerne auch verdrängt. Mit Junkies, Bettlern oder sonstigen kuriosen Gestalten will kaum jemand etwas zu tun haben. Durch diese Strassenperformance wurde ich jedoch Teil dieser anderen Geschichte. Um diese andere reale Geschichte greifbar und so quasi von Innen kennen zu lernen bedurfte es dieser  Verwandlung.

Danke, Tom, dass du mich dazu inspiriertest und mir diese Reise in das andere München auch ermöglichtest!"

Danke Tobias, für die Anregung, das Experiment und die Rückmeldung. Mich hat das ein gutes Stück weiter gebracht im Verstehen dessen, was ich hier eigentlich tue.

Nachtrag: Einen Tag nach der ersten Mail bekomme ich noch eine zweite von Tobias. Er hatte mir ein Buch mitgebracht  und empfiehlt mir, die Seiten 173 bis 176 zu lesen. Hier ein Auszug:

„Wir verkleiden uns jeden Tag und jede Nacht unseres Lebens: formelle und informelle Kleidungen, sexy, angeberisch, feminin, maskulin, weit, eng, sommerlich, winterlich, Verkleidungen, die unserem Alter, unserer Kultur und unserer Subkultur entsprechen. [...] Wir haben Verkleidungen für unsere Wohnung, unsere Fenster und Türen, und alle diese Verkleidungen erinnern uns daran, wer wir vermeintlich sind. Wir haben uns so an unsere äußere Erscheinung als Definition und Ausdruck unserer Identität gewöhnt, dass wir, wenn wir sie ändern und uns etwas Anderes anziehen, eine ungewöhnliche Persönlichkeit aus unserem Innersten auftauchen lassen. Und dieses „Coming-Out“ kann etwas erstaunlich befreiendes haben. 

Wir können mit unserem Leben spielen [...] und dann zu unserer vertrauten Identität zurückkehren. Diese wird auf uns warten, bereit, uns jederzeit wieder aufzunehmen, wenn wir das Bedürfnis danach haben.“ 

[Aus: Nina Wise – „Ein großartiges, ungewöhnliches, glückliches, neues Leben“ – 2006, Arbor Verlag]