Mittwoch, 30. Januar 2013

Intermezzo 2 – Außerirdisch in München

Tobias hat sich auf einen Besuch angemeldet. 

Tobias ist aus St. Gallen. Ich kenne ihn von einem dreiwöchigen Sommerworkshop mit Ruth Zapora in Santa Fe, NM. Er ist Gründer und Leiter des Playback-Theater. St. Gallen und macht auch sonst viel: Beratung, Therapie, Coaching... Ich freue mich sehr, dass er zu Besuch kommt.

Wir sitzen bei uns in der Küche und ich frage ihn, was er sehen will in München. Schnell stellt sich raus: er würde neben dem „normalen“ Programm gerne irgendwas auf der Straße machen. Wir überlegen. Bild? Sehr aufwändig. Figur? Leichter zu organisieren. 

Nach einem Spaziergang durch die Stadt (Touristenprogramm muss sein) sind wir wieder Zuhause und sammeln ein, was wir brauchen: Schwarze Anzüge. Einen für ihn, einen für mich. Hüte. Er entscheidet sich für den Zylinder. Schminkutensilien. Ohne es beabsichtigt zu haben, habe ich alles in zweifacher Ausführung zu hause.

Schon in den Anzügen – Hüte und Handschuhe in der Hand, Schminkzeug in der Jackentasche – fahren wir mit der U-Bahn zum Odeonsplatz. Wir gehen nach oben. Es stürmt. Der Diana Tempel im Hofgarten bietet annähernd Schutz. 

Vorher hatten wir verschiedene Sachen ausgemacht. Unter anderem würde ich in meiner „normalen“ Präsenz anwesend bleiben, um immer mal wieder einen Blick auf ihn zu werfen (was das heißt erfahre ich erst als es soweit ist).

Schon bei der „Verwandlung“ – in erster Linie Schminken – sprechen wir nicht mehr. Ich bin vor ihm fertig. Auch diesmal brauche ich keinen Blick in den Spiegel, um in die „andere“ Wirklichkeit einzutauchen, die der Figuren. Nicht ganz eintauchen, so wie sonst, wenn ich alleine unterwegs bin. Ich beobachte Tobias – oder besser den, der er jetzt geworden ist – aus dem Augenwinkel und versuch dabei in der Präsenz meiner Figur zu bleiben. Eine neue Erfahrung. Schon jetzt ist es kein „entweder oder“-Gefühl mehr, so wie es mit der anderen Figur ist. Diesmal sind immer beide da. Ich bin präsent, die Figur ist präsent. Und: es ist nicht die Figur in der ich sonst unterwegs bin. Die Klamotten sind weniger „förmlich“, weniger „schwer“.

Was ist der Unterschied zur anderen Figur, der in Frack? Diese Figur ist „agiler“, weniger langsam. Aber auch weniger geerdet und stabil. Ich trete aus dem Tempel heraus und ich muss mit mehreren, stolpernden Schritten ausgleichen, weil der Wind mich fast umwirft. Es zieht mich zum Licht. Ich (oder besser die Figur) würde gerne schnell loslaufen; in Richtung der Menschenmenge auf dem Odeonsplatz.

Geht aber nicht. Den mein normales Ich hat eine Aufgabe: den Kontakt zu Tobias zu halten. Durch meine Figur. Das erste Mal schaue ich mich nach ihm um. Kein Kontakt. Er steht regungslos vor dem Diana Tempel. Schon jetzt wird klar: seine Figur und meine haben sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten. Für die nächste Stunde (so lange werden wir etwa unterwegs sein) habe ich einen permanenten Konflikt zwischen meinem „normalen“ Ich und meiner Figur. Einmal steht er eine gefühlte viertel Stunde (meine Einschätzung – die Figur kennt keine Zeit; sie hat nur den Impuls, weiter zu gehen) vor einer Bronzestatue eines sitzenden Löwen; regungslos. Ich muss warten. Meine Figur will weiter.

Was ich dabei bemerke: Der Übergang ist fließender. Wenn ich alleine unterwegs bin sind die Wechsel zwischen meinem normalen ich und der Figur deutlicher; immer nur einer hat die Führung. Durch die Situation des im Kontakt Bleibens zwischen mir (Tom) und der Figur von Tobias sind „in mir“ beide, ich und meine Figur, gleichermaßen anwesend und es gibt keinen eindeutigen Wechsel. Eher eine Art gleichzeitige aber geteilte Aufmerksamkeit: die dritte Referenz, die Figur von Tobias hat von beiden die Aufmerksamkeit. Bisweilen verschwimmt es. Meine Figur erkennt seine als jemanden ähnlichen. Immer wieder „gehen“ beide gemeinsam und meine Figur genießt es. Immer wieder komme ich ins Spiel und „sehe“ das Bild der beiden vor dem inneren Auge und lasse mich, bzw. die Figur davon leiten. Eine Art Pas de deux von zweien, die nicht hier her gehören. 

Bemerkenswert ist auch, dass meine Figur zwei Mal von Menschen angesprochen wird. Einmal von einem offensichtlich verlorenen, stark alkoholisierten jungen Mann, der nur gebrochen Deutsch spricht. Weder ich noch meine Figur verstehen, was er will. Ich entscheide, die Figur antworten zu lassen. „Ich weiß nicht“ sagt sie zwei oder drei mal sehr friedlich, sehr langsam und sehr ehrlich. Was soll ich auch tun. Ich habe ihn tatsächlich nicht verstanden und immerhin begleite ich ja schon jemand anderen. Der junge Mann geht weiter.

Kurz darauf spricht mich eine Touristin an. Auf Englisch. Asiatisches Aussehen, sehr teuer gekleidet. „Maximiliansstraße?“ will sie wissen. Wir stehen genau am Anfang der Maximiliansstraße. Ich entschließe mich wieder, die Figur antworten zu lassen. Sie deutet langsam die Maximiliansstraße hoch. Die Touristin will wissen „how many minutes?“. Ich entscheide „zwei“, die Figur hebt langsam die Hand und zeigt zwei Finger. Die Touristin bedankt sich mehrmals auf Englisch und in einer mir unverständlichen Sprache und geht weg.

Was mich im Nachhinein überrascht, ist dass beide Menschen anscheinend das ungewöhnliche Verhalten und Aussehen der Figur gar nicht als „unnormal“ wahrnehmen; im Gegensatz zu allen anderen, die unsere Existenz in ihrer Geschwindigkeit und Zielorientierung größtenteils gar nicht wahrnehmen.

Im Gespräch danach stellen Tobias und ich fest, dass beide Menschen, die meine Figur angesprochen haben – ähnlich wie die Figuren selbst – nicht Teil der „normalen“ Wirklichkeit mit ihrer Geschwindigkeit und ihren Konventionen sind. Der eine rausgefallen, weil verloren und alkoholisiert, die andere, weil offensichtlich fremd und anderes gekleidet. Beide hatten definitiv nicht das Erleben, Teil der um sie herum stattfindenden Realität zu sein. So geht es meiner Figur auch. Vielleicht liegt darin eine Antwort. 

Nach einer Stunde – es hat inzwischen begonnen zu regnen und ist eisig geworden – stupst mich Tobias (er muss es sein, denn es ist definitiv nicht die Energie seiner Figur – dieses „alten“ Mannes in zu großem Anzug und mit Zylinder, den ich jetzt die ganze Zeit in seiner Langsamkeit begleitet habe) von hinten an und deutet auf den U-Bahn Eingang. Ich verstehe, was er will und lasse meine Figur seine Figur zur Toilette im Rathaus führen. Es ist anstrengend. Meine Figur empfindet das als starken Zwang durch mich. Zielgerichtet und schnell. Für meine Figur ist es unangenehm. Ich allerdings weis, dass es nötig ist. 

Die Toilettenfrau ist schon am Schließen; hat schon geputzt. Wir bitten Sie, uns noch kurz abschminken zu dürfen. Sie ist alles andere als begeistert. Ich kann sie gut verstehen, bleibe aber hartnäckig. Wir schminken uns ab, sie lässt uns in Ruhe. Langsam verschwindet meine Figur und ich stelle verschiedene Dinge fest: Ich bin total durchgefroren. Die Figur war das nicht, sie kennt Frieren nicht. Sie hat sich nur den Kragen zugehalten, weil das irgendwie besser war bei Regen und Gegenwind. Ich habe einen irren Hunger. Meine Figur hatte nur irgend wie einen unangenehmen „Stimulus“ im Bauch. Ich bin müde und angestrengt. Meine Figur hat davon gar nichts gespürt. 

Wir bedanken uns bei der verständlicherweise schlecht gelaunten Toilettenfrau und treten raus auf den Marienplatz. Ich schlage Tobias vor, noch einen Kaffee trinken zu gehen und über die Erlebnisse zu reden. Ich bin neugierig. Was hat er, bzw. seine Figur erlebt? Wie hat er oder seine Figur meine Figur wahrgenommen? Wir sitzen eine Stunde im Café, ich stelle Fragen er antwortet mit viel Bedacht. Ich bin ihm unglaublich dankbar. Ich höre die Erfahrungen eines anderen, der feinfühlig, mutig und erfahren genug ist, sich auf dieses Experiment einzulassen. Und: er hat es initiiert. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, das anzubieten. Ein zweites Mal (nach dem Filmen beim letzten Mal) bekommt die jeweilige Figur etwas „wirklicheres“, weil es auf die eine oder andere Art Zeugen gibt. Außerdem geben Tobias’ Antworten mir die Chance, die ganzen Erfahrungen anders zu reflektieren.

Als wir wieder in die U-Bahn steigen wird uns beiden bewusst, dass wir wieder vollkommen „zurück“ sind in der Normalität. Hauptsächlich merken wir es an der Geschwindigkeit und Zielorientiertheit, die uns jetzt auch wieder erfasst hat. Die Figuren kennen das nicht. Woher auch? 

Bevor Tobias am nächsten Tag wieder nach St. Gallen fährt frage ich ihn, ob er wohl Lust hätte, seine Erfahrungen aufzuschreiben und sie mir zu schicken, damit ich sie hier in den Blog veröffentlichen kann. Aufgeschrieben habe er sie schon, sagt er lächelnd und zwei Tage später habe ich die Mail:

"Gerne halte ich die Erkenntnisse meiner 1. Strassenperformance für dich kurz fest:

Als neutrale Figur d. h. schwarz gekleidet mit weissem Gesicht und rötlich gefärbten Lippen tauchte ich ein in eine Welt, die als Parallelwelt in den Strassen von München existiert. Staunend nahm ich Notiz von einem ruhelosen München, dass sich mir fremd und manchmal auch feindselig präsentierte. Auffällig war, wie die Leute an mir vorbei hasteten. Sie schienen ein Ziel zu verfolgen. Irgendwo in der Ferne oder Nähe schien etwas zu sein, zu dem sie sich magisch hingezogen fühlten und das sie alle möglichst schnell erreichen wollten. Hier, wo ich mich befand war jedoch nichts, das sie für beachtenswert empfanden. Meine Person wurde kaum wahrgenommen. Das überraschte mich als Tobias sehr. Als Figur störte es mich nicht. Ich war fremd hier, fühlte jedoch auch nicht das Bedürfnis mit dieser Welt, die mich gerade umgab, in einen wirklichen Dialog zu treten. Das war ein Gefühl von Freiheit aber auch Einsamkeit. Zu meinem "Zwillingsbruder" (die Figur von Tom) auf der anderen Strassenseite bestand eine sehr lose Verbindung. Immerhin gab sie mir jedoch das Gefühl, dass meine Welt, diese Parallelwelt, nicht von mir alleine bevölkert wurde. Ein betrunkener Junkie und eine asiatische Touristin haben die Figur von Tom auch tatsächlich angesprochen. Alle anderen "normalen" Bürger behandelten uns meist wie Luft. Ganz selten erlebte ich ein scheues Lächeln oder einen kurzen Blickkontakt als kurzen Brückenschlag zwischen meiner und der anderen Welt.

Als ich mich auf der Toilette abschminkt hatte und wieder auf die Strassen von München zurückkehrte, war auch die Parallelwelt, in der ich mich eben noch befunden hatte, weg. Ich war wieder im ganz normalen München gelandet und hatte die Parallelwelt mit ihrer anderen Gegenwart weit hinter mir gelassen. Das war eine ganz neue Erfahrung!

Als Playback-Theater Spieler wurde mir auf ganz neue Art bewusst, wie identitätsstiftend Geschichten sind. Aus vielen kleinen Geschichten entsteht die Geschichte einer Gesellschaft. Mit meiner Figur verliess ich die "normale" oder "offizielle" Gesellschaft und tauchte ein in eine Welt mit einer ganz anderen Geschichte. Als meine Figur fühlte ich mich zeitweise wie ein Ausserirdischer, der Mitten in München gelandet war und diese Stadt gerade eben erst kennen lernte. Ich war ganz klar keiner von denen, die da so hastig an mir vorbei gingen oder mit dem Fahrrad vorbei fuhren. Auch wenn ich als schwarzgekleidete Person neutral in Erscheinung treten wollte, so war ich nicht wirklich neutral. Ich fühlte mich als ziemlich alten und etwas gebrechlichen Mann. Für die Erforschung der Geschichte meiner Figur hatte ich als Tobias keine Zeit. Doch mir ist jetzt klar, dass meine Figur auch eine Geschichte hatte, die in dieser Parallelwelt angesiedelt ist, welche ebenfalls in den Strassen von München existiert. Sie wird von den "normalen" Menschen kaum wahrgenommen und gerne auch verdrängt. Mit Junkies, Bettlern oder sonstigen kuriosen Gestalten will kaum jemand etwas zu tun haben. Durch diese Strassenperformance wurde ich jedoch Teil dieser anderen Geschichte. Um diese andere reale Geschichte greifbar und so quasi von Innen kennen zu lernen bedurfte es dieser  Verwandlung.

Danke, Tom, dass du mich dazu inspiriertest und mir diese Reise in das andere München auch ermöglichtest!"

Danke Tobias, für die Anregung, das Experiment und die Rückmeldung. Mich hat das ein gutes Stück weiter gebracht im Verstehen dessen, was ich hier eigentlich tue.

Nachtrag: Einen Tag nach der ersten Mail bekomme ich noch eine zweite von Tobias. Er hatte mir ein Buch mitgebracht  und empfiehlt mir, die Seiten 173 bis 176 zu lesen. Hier ein Auszug:

„Wir verkleiden uns jeden Tag und jede Nacht unseres Lebens: formelle und informelle Kleidungen, sexy, angeberisch, feminin, maskulin, weit, eng, sommerlich, winterlich, Verkleidungen, die unserem Alter, unserer Kultur und unserer Subkultur entsprechen. [...] Wir haben Verkleidungen für unsere Wohnung, unsere Fenster und Türen, und alle diese Verkleidungen erinnern uns daran, wer wir vermeintlich sind. Wir haben uns so an unsere äußere Erscheinung als Definition und Ausdruck unserer Identität gewöhnt, dass wir, wenn wir sie ändern und uns etwas Anderes anziehen, eine ungewöhnliche Persönlichkeit aus unserem Innersten auftauchen lassen. Und dieses „Coming-Out“ kann etwas erstaunlich befreiendes haben. 

Wir können mit unserem Leben spielen [...] und dann zu unserer vertrauten Identität zurückkehren. Diese wird auf uns warten, bereit, uns jederzeit wieder aufzunehmen, wenn wir das Bedürfnis danach haben.“ 

[Aus: Nina Wise – „Ein großartiges, ungewöhnliches, glückliches, neues Leben“ – 2006, Arbor Verlag]