Sonntag, 23. Dezember 2012

Die Beziehung zwischen ihm und mir...

Wo anfangen? 

Es ist so viel! Am besten am Anfang. Sonntag Morgen um 7:45 Uhr am Odeonsplatz in München. U-Bahn Zwischengeschoß. Es hat geregnet und es ist nass. Im Vorfeld gab es viele Ideen, was heute alles passieren sollte. Der ursprüngliche Plan hatte gar nichts mit der Figur zu tun sondern mit Weihnachten. Über die Wochen blieb am Ende nur eines: am Sonntag Morgen vor Weihnachten in der leeren Stadt verwandeln. Und was auch blieb war die Idee, "ihn" zu filmen. Je länger ich am Abend davor darüber nachdenke, desto klarer wird mir, was für ein Experiment alleine das ist. Alle anderen Aufgaben, die ich ihm stellen wollte sind damit vom Tisch. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern, um was es eigentlich geht: um das Erleben. Nicht um Darstellen, nicht um ein fertige Bild, nicht um Wirkung.

Um 8:00 kommt -wie vereinbart- Sarah, eine Freundin, der ich soweit vertraue, dass ich sie gefragt habe, ob sie mich/ ihn filmen will. Ursprünglich, weil ich ein bestimmtes Bild mit "ihm" vor Augen hatte, aber -wie gesagt- darum geht es dann schon lange nicht mehr. 

Im Zwischengeschoss sind U-Bahn Wachen unterwegs, also wird nichts daraus, mich hier, geschützt vor Wind und Nässe zu verwandle. Ich begrüße Sarah, wir gehen zum Dianatempel im Hofgarten. Ich merke, wie unsicher ich bin. Die Verwandlung und „seine“ Existenz so bezeugen zu lassen, so bewusst danach zu fragen, macht mich nervös. 

Meine Hoffnung, dass es unter dem Dach des runden Dianatempels trocken ist, wird nicht erfüllt. Egal. Zusätzlich müssen wir über die schweren Absperrketten steigen, die uns vor Dachlawinen warnen. Kurz beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Wird er da raus kommen? Ich muss mich aktiv daran erinnern, dass das sein Problem ist.

Ich beginne, mich umzuziehen, Sarah beginnt zu filmen. Es ist komisch, gefilmt zu werden. Bei etwas, dass immer nur als Selbstexperiment gedacht war. Es geht nicht um Wirkung. Und dennoch verändert es alles. Ich mache alles noch bewusster. Als Thomas stört mich das Filmen auch noch nicht. Aber im laufe der dann folgenden 10 oder 15 Minuten -in denen er entsteht- wird klar: das beobachtet und gefilmt Werden ist eine riesige Herausforderung für ihn.


© Sarah Schill

Zuerst steht jedoch eine andere Aufgabe an: aus dem runden Tempel mit seinen acht Torbögen herauskommen. Jeder Bogen ist mit einer schweren, schaukelnden Eisenkette verhängt. Für ihn ein unüberwindbares Hindernis.

Er hat keinerlei Impuls, über die Kette zu steigen. Ich trete kurz ein Wenig in den Vordergrund. Eine Sekunde habe ich Sorge, dass seine gesamte heutige Existenz nur im kleinen Rund des Dianatempels stattfinden könnte. Innerlich muss ich grinsen. Er steht immer noch vor einer der Ketten und schaut raus. Ich "interveniere" und gebe ihm den Impuls, über die Kette zu steigen. Es ist umständlich und gefährlich.

Das mit dem ich -also Tom- und er -also die Figur- ist so eine Sache. Ich bin immer da. ab dem Ende der Verwandlung bis zum Entschluss, wieder zu mir zu werden. Ich kann komplett zurücktreten. Dann entscheidet er; und ich habe eine Art versteckte Beobachterposition. Er erlebt, ich erlebe aus seiner Perspektive mit. Oft komme ich in "mein" Bewusstsein und muss mich dann aktiv darauf fokussieren, er zu sein, oder besser: ihn sein zu lassen. In Situationen, in denen er einen Impuls braucht, oder in denen es gefährlich wird kann ich allerdings weniger oder mehr in den Vordergrund treten. Der Wechsel ist fließend und stufenlos und klappt dieses Mal sehr gut.


© Sarah Schill

Muss er auch, denn ich will, dass es von ihm ein paar gute Fotos und Filmsequenzen gibt. Sarah macht das super. Hält sich komplett im Hintergrund. Nur ganz selten geht sie vor ihm und macht Aufnahmen von vorne oder sogar aus der Nähe; von seinem Gesicht. Für ihn eine Qual. Ich zwinge ihn, Sarah nahe ran zu lassen. Es ist fast Gewalt, die ich ihm antue. Er fühlt sich verraten. Verraten von mir. Tatsächlich kommt es mir jetzt, wo ich im Café sitze und meine Erlebnisse reflektiere vor, wie ein böser Vertrauensbruch. Dieser Scheue, traurige, vorsichtige Mensch, abhängig von mir (denn nur so kommt er in seine Existenz) wird von just dem einzigen, den er hat, gezwungen, einen anderen Menschen so nah ran zu lassen. An einer bestimmten Stelle kommen ihm Tränen. Er kann es nicht fassen, aber er lässt es zu, vielleicht, weil er weiß, dass er keine Wahl hat.

Sarah erzählt mir danach, als wir noch einen Kaffee trinken, wie unangenehm es ihr war trotz der klaren Zeichen der Unsicherheit und der Abneigung so nah ran zu gehen und ihn so zu verfolgen. Ich bin ihr dankbar. Aus vielen Gründen. Zum einen, weil die Beobachtung das Erleben der Verwandlung (hin und zurück) noch bewusster macht. Eine Zeugin bringt die Außensicht klarer zum Vorschein. Die Folge für mich: ich muss mich noch klarer entscheiden, muss mich noch bewusster darauf einlassen.

Ein weiterer Grund, dass ich mich sehr freue, dass Sarah filmt ist, weil es "ihm" eine komplett neue Erfahrung bringt. Das Gefühl "ausgeliefert" zu sein. Es verändert die Beziehung zwischen mir und ihm. Ich zwinge ihn zu etwas, was ihm höllisch unangenehm ist. Was ihn wütend macht. Und diese Wut, auch wenn sie nur in Momenten verzweifelter Trauer ihren Ausdruck finden, ist eine komplett neue Erfahrung. 


© Sarah Schill

Der Weg, den er heute zurücklegt ist sehr kurz. In einer halben Stunde vom Hofgarten auf den Odeonsplatz, dort verweilen und dann zurück zum Eingang des Herkulessaals. Unter dem schützenden Vordach öffne ich meinen Koffer, ziehe mich um und schminke mich ab.

Nach der Rückverwandlung macht es ein weiteres Mal einen riesiger Unterschied zu wissen, dass da wer ist, der das alles aus der Nähe und bewusst miterlebt und bezeugt hat. Ich bin dankbar, dass jemand da ist, mit dem ich darüber reden kann. Obwohl dass erst mal gar nicht möglich ist, weil ich die Spannung, unter der ich stehe loswerden muss. Ich komme mir vor, als hätte ich ihn betrogen. Als hätte ich ihn missbraucht. Oder besser sein Vertrauen und seine Abhängigkeit missbraucht. Das Wissen, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt hilft nicht. Und außerdem: es gibt ihn ja; zumindest zeitweise.

Also: diesen Gefühlen nachspüren. Dem Mitgefühl mit ihm, das noch eine ganze Weile anhält. Meinem Gefühl, fast schon gewalttätig gewesen zu sein, auf jeden Fall aber übergriffig. Nach einer Weile fällt auch dieses Gefühl ab; nachdem ich mit Sarah reden kann. Erzählen kann. Ihre Erlebnisse anhören kann; Schilderungen, die mein und sein Erleben bestätigen.

Hilfreich ist auch, bezeugt zu bekommen, was bisher ja nur als Selbstexperiment im Raum stand. Ein Erleben, dass ich mit niemandem teilen konnte. Ich kann es beschreiben in einem Blog, reflektieren im Gespräch mit anderen, aber es bleibt ein Wiedergeben einer Wirklichkeit, die so komplett surreal ist, dass sie mich immer wieder beängstigt. Das ist von heute ab anders. Ich bekomme Rückmeldung. Von Außen. Von einem Menschen, dem ich vertraue. Und die deckt sich mit dem, was ich, bzw. er in dieser Zeit der Parallel-Existenz erleben. Das ist beruhigend. Und: es gibt Bilder und Videos. Die Bilder bekomme ich später. Ich bin gespannt. Im Augenblick bin ich mir gar nicht sicher, ob ich sie sehen will. Sie könnten eine weitere Perspektive für mich bringen, von der ich nicht weiß, ob sie nicht wieder alles verändert. Bisher kennt er (und ich) nur sein Spiegelbild. Für ihn wird sich das nicht ändern, außer ich zwinge ihn irgendwann, in seiner Existenz Bilder oder Filme von ihm anzuschauen. Für mich wird sich etwas ändern, weil ich dann Bilder von ihm habe, ohne sie durch ihn wahrzunehmen, wie das etwa mit Spiegelbildern in Schaufenstern ist, die ja zu kompletten Verwandlung nötig sind.

Oder besser gesagt: sie waren es. Bisher habe ich die Erfahrung gemacht, dass er erst vollkommen er ist, wenn er sein Spiegelbild gesehen hat. Diesmal war es anders. Vielleicht lag es an der Außenperspektive durch die Kamera. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war er schon in dem Moment komplett da, in dem ich den Koffer nach dem Umziehen geschlossen habe. Da muss ich ihn zwingen, nochmal zu gucken, ob nicht etwas von mir liegengeblieben ist. Ihn interessiert das nicht. Er will einfach nur losgehen.


© Sarah Schill

Viel Neues. Für ihn. Für mich. Für die "Beziehung" zwischen ihm und mir. Erst durch das Experiment des Filmens, des bezeugt Werdens und des penetrant verfolgt Werdens wird mir überhaupt bewusst, dass es sie gibt und welche Züge sie hat, die Beziehung zwischen mir und ihm. Und wie verletzlich sie ist. 

Ich bitte Sarah beim Kaffee danach, mir die Bilder zu schicken und einen Film zusammenzuschneiden. Sie sagt ja. Ich bin Froh. Jetzt wird mir klar, dass ich schon die Bilder heikel finde. Aber das Filmmaterial sichten und zusammenschneiden? Danke, dass kann ich nicht. Das würde mich so in die Außenperspektive und auf die Eben der "Wirkung" bringen, dass ich mir sorgen machen würde, ob ich danach jemals wieder in diese Parallele Wirklichkeit eintauchen kann, ohne permanent die Wirkung als Störfaktor zu haben. Und das fühlt sich so an, als wäre es ein noch größerer Verrat an ihm und meine Beziehung zu ihm, als es die Aktion heute schon war. Ich glaube, er muss jetzt erst mal wieder ein Bisschen Vertrauen zu mir fassen:-)

Als ich Sarah verabschiedet habe, beschließe ich, mich noch kurz in ein Café zu setzen und die Gedanken für den Blog aufzuschreiben. Jetzt, über eine Stunde nach der Rückverwandlung, nach dem Gespräch mit Sarah und nach der zweiten Tasse Tee, bei Weihnachtsmusik, die im Café läuft komme ich langsam zur Ruhe. Das war das aufwühlendste Erlebnis mit ihm und für ihn. Bisher.

14:30 Uhr: Gerade sind die Fotos gekommen...

© alle Bilder: Sarah Schill, München


Danke an: Sarah. Für die Mischung aus großem Einfühlungsvermögen und Hartnäckigkeit und für die Offenheit; hat ihn und mich weitergebracht...


Samstag, 7. Juli 2012

Intermezzo - München

Eine Art öffentliches Training

Eigentlich hätte es eine weitere Episode der Figur werden sollen. Nur: es hat 30 Grad und die Figur gibt es nur mit mindestens drei Schichten Kleidung und Schal. Das wäre der Wahnsinn. Also beschließe ich, dass es etwas anderes sein wird; einfach nur, weil ich Lust habe zu laufen.

Schon vor einer Weile hatte ich die Idee, mit ein paar anderen komplett schwarz bekleidet und schwarz geschminkt einen Walk Act zu machen. Der Grundgedanke: kein direkter Kontakt zu Leuten, kein Körperkontakt untereinander, keine Requisiten. In der Öffentlichkeit schminken und das machen was Ruth Zaporah in ihrer Action Theater® Practice macht: Nicht auf die Welt reagieren, sondern die Reize von außen auf die innere Erlebniswelt treffen lassen und die dadurch ausgelöste Veränderung über den Körper nach außen bringen. So ungefähr zumindest habe ich es aus den Trainings mit ihr mitgenommen. „Don’t react, respond!“; keine Konzepte, nur direktes Erleben; kein Kopfkino, nur Körperimpulse.

Keiner hat zeit, also probiere ich es alleine aus. Im Gegensatz zur Figur also ein „neutrales“ Äußeres, das dennoch Kostüm und Maske ist und so die „Privatperson“ dahinter zurück treten kann. Eine art neutrale Ganzkörpermaske. Die Aufgabe wird sein, nur körperlich wahrzunehmen, was sich verändert und den Impulsen, die daraus entstehen nachzugeben.

Ganz so ist es dann aber doch nicht. Ich gehe in den Park am Sendlinger Tor und schminke mich auf einer Parkbank. Schminke und Schwamm stecke ich ein, als ich fertig bin. Den schwarzen Anzug trage ich schon. Ich setze eine Melone auf und ziehe mir schwarze Handschuhe an. Sonst habe ich nichts dabei, muss also im Gegensatz zur Figur keinen Koffer und auch sonst nichts tragen.

Noch bevor ich eine Chance habe, mein Spiegelbild ganz zu sehen geht es los. Es ist ein sehr klares inneres Erleben: schlecht gelaunt, getrieben, introvertiert und misantrop. Ich achte zuerst auf meinen Atem. Und schon nach den ersten Zügen wird das ausatmen geräuschvoll. Eine Art genervtes Schnaufen. Ich gehe die Sonnenstraße lang und blöffe in einer art stimmlos-geschnauften unartikulierten Stimme die Passanten an, wenn sie mir im Weg sind. Ich grummele vor mich hin und gehe schnell und hektisch. Meine Unterarme schlendern unkoordiniert mit. Ich gehe gebückt, Blick nach unten, den Hals angezogen, der Mund halboffen mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Immer wieder kommen angewiderte Laute aus meinem Mund und ich artikuliere abwehrend mit meinen Armen. Beim gehen kommen immer wieder Bewegungsimpulse die zu überraschenden Richtungswechseln führen. Überraschend auch für die Passanten um mich herum.

So laufe ich ein Stunde durch die überfüllte Innenstadt, schnauze in einer Fantasiesprache wahllos Passanten an und brabbel mies gelaunt Laute vor mich hin.

Auf eine Art ist es angenehm unspektakulär. Ich (der private Thomas) bin im Hintergrund und beobachte alles genussvoll. Wie auf dem Rücksitz eines Autos, den Fahrer beobachtend und der Fahrer bin ich selbst. Immer wieder „falle ich raus“; bin ich ich, der private Thomas. Der Weg zurück ins Innenleben der maskierten Person geht über den Atem. Auf den Atem achten und ihn sich entwickeln lassen.

Streckenweise nehme ich die Umwelt kaum wahr. Überquere den Altstadtring am Isartor ohne zu gucken. Blöffe sogar einen Security Menschen neben einer teuren schwarzen Limousine in der Maximillliansstraße an, der mich böse anschaut. Angst habe ich keine. Die Maske funktioniert; und zwar in erster Linie als Schutz für mich; als „Freibrief“.

Die Reaktionen der Leute sind – so ich sie mitbekomme – sehr unterschiedlich. Manche lachen über den offen ausgelebten Ekel und das offen gezeigte angenervt sein. Manche erschrecken, einige weichen aus. Solange ich in der „Maske“ bin ist mir das alles gleich.

Irgendwann komme ich am Marienplatz an. Im Innenhof des Rathauses ist eine öffentliche Toilette. Ich zahle 50 Cent gehe durchs Drehkreuz und wasche mir am Wachbecken die Farbe aus dem Gesicht. Mit dem Sakko und der Melone in der Hand verlasse ich die Toilette und trete in die warm Sonne, die ich erst jetzt wieder wahrnehme. Die innere Anspannung, die Hektik, die „schlechte“ Laune fallen ab und ich werde sehr ruhig. Ich bin wieder der „normale“ Thomas.

Jetzt, eine Stunde später, kommt es mir vor wie eine Art öffentliches Training, weniger wie eine Performance. Mag sein, dass es von Außen anders wahrgenommen wurde, aber für mich war es nur die Aufgabe im Innen zu bleiben, ohne Konzepten oder Vorstellungen nachzugehen. Wenn sie kamen habe ich sie genommen, vielleicht kurz „gespielt“ und dann weiterziehen lassen. Der Schlüssel dazu war jedes Mal der Atem und das Spüren des Körpers. Es ist Training. Eben nur in einer Umgebung die nicht „geschützt“ ist. Die Passanten waren dabei kein Publikum, sondern eben diese Umgebung. Ein sehr pro-aktiver Kontext. Vielleicht sogar Mitspieler...

Samstag, 14. April 2012

Nummer 4 - München, 14. April 2012 - Der Moment.

Oder: Sehr langsam, sehr alt und sehr frei.


Es war eine längere Pause. Und -wie bisher jedes Mal- gibt es diesen kurzen Moment der Entscheidung. Sich auf einem öffentlichen Platz (diesmal das Max II Denkmal in München) schminken und umziehen ist etwas, wofür man sich entscheiden muss, sonst tut man es nicht. Dennoch ging die Verwandlung diesmal vorher los. Vielleicht ging sie auch schon die letzten male vorher los und ich habe es nur nicht gemerkt, weil ich viel zu nervös war und viel zu sehr mit der Entscheidung an sich beschäftigt. Diesmal blieb die Nervosität aus. Und so bin ich mit einem Becher Tee in der Hand vom Isartor losgelaufen auf der Suche nach einem guten Ort für die Verwandlung. 


Schon während dieser Suche verändert sich die Wahrnehmung und die Geschwindigkeit. Ich (noch bin ich ich) werde langsamer und aufmerksamer. Nehme Häuser nicht mehr nur noch als Grenze meiner Bewegungsfreiheit wahr. Spüre die Präsenz anderer Menschen, ohne sie ansehen zu müssen. Es ist, als würden sich meine Sinne auf die Verwandlung vorbereiten. 


Schon von der Ferne ist klar: Die Stufen des Denkmals sind der Ort für Heute. In der Mitte einer Kreuzung auf einer langgezogenen Verkehrsinsel. Trambahnschienen und die Haltestellen trennen das Denkmal von der Straße. Außer einem Touristen, der das Denkmal fotografiert ist niemand auf der Verkehrsinsel. Die Stufen des Denkmals sind ideal, um sich zu schminken und umzuziehen. 


Ich setze mich auf die oberste Stufe und schaue eine Weile über die Maximiliansstraße in die Innenstadt. Ich  lasse den Oft auf mich wirken. Wenig Menschen, alle mit einem gewissen Abstand. Das ist gut und wichtig. Ich möchte nicht schon während der Verwandlung Kontakt aufgezwungen bekommen. Beobachtet werden ist in Ordnung, das ist Teil der Verwandlung. Es ist eine Art Ritual. Schritt für Schritt. Sehr bewusst. Aber eben ungestört durch direkten Kontakt, wenn möglich. 


7 Trambahnen später bin ich fertig. Er ist da. Noch nicht ganz. Halb ich, halb er packen meine Klamotten in den Koffer, räumen Geld, Karten und mein abgeschaltetes Telefon von meiner in seine Hose. Ich breche eine Regel: Ich mache ein Foto von ihm. Solange ich noch da bin ist das in Ordnung. 


Wie bei den letzten Malen ist die Verwandlung abgeschlossen, als er sein Spiegelbild in einem Fenster sieht. Die Wirkung ist lange nicht so stark, wie die letzten Male. Er sieht sich, er ist er. Ganz unspektakulär. Ich "stehe bereit", falls Situationen auftauchen, die er nicht lösen kann, verschwinde aber bisweilen ganz.  


Wie schaffe ich es, zu "verschwinden"? Meinen Körper wahrnehmen. Reinspüren, was da ist und passiert. Diesmal ist es erstaunlich. Zwanzig Schritte und ich, oder besser: er hat keinen Grund mehr sich weiter zu bewegen. Er steht. Das erste Mal heute und es wird noch öfter passieren.


Die einzigen Impulse, weiter zu gehen kommen von Passanten. Er ist schüchtern. Kein Blickkontakt. Alle sind wahnsinnig schnell. Und laut. Er schaut sich Gebäude und Bäume an. vorübergehende Passanten machen ihm Angst. Er muss ausweichen. Ein Grund, sich zu bewegen. Der einzige. Bis er sie aus sicherem Abstand anschauen kann, sind sie meistens schon weg. Wenn, dann sieht er sie von hinten. 


90 Minuten. Vielleicht ein Kilometer. Die Schritte sind ein oder zwei Zentimeter lang. Die Füße verlassen den Boden nicht wenn er sich bewegt. Wenn er sich überhaupt bewegt. Minutenlang steht er da. Kein Antrieb, weiter zu gehen. Wozu auch? Und wohin denn auch?


Immer wieder muss ich mich daran erinnern, nicht zu übernehmen. Ich erkenne es, weil ich mich beim Denken erwische. Beim Versuch, etwas vorzugeben. Dann konzentriere ich mich auf meine Körperwahrnehmung. Und was ich, bzw. er da spürt ist neu: Die Schüchternheit und die Scheu anderen Menschen gegenüber sind weiterhin da. Aber sie stehen nicht im Vordergrund. Es ist Müdigkeit. Antriebslosigkeit. Sein Körper ist schwach. Gebrechlich. Wenn er sich nicht darauf konzentriert, geben seine Beine nach. Es ist nicht unangenehm oder bedrohlich. Es ist einfach so. Es gibt schlichtweg keinen Grund, weswegen er sich bewegen sollte. Es gibt kein Ziel. Es gibt keinen Ort, wo er hingehört oder hin will. Häuser sind Gebilde. Autos sind Gebilde. Menschen sind Gebilde. Interessant; aber auch nicht mehr und nicht weniger. 


In dem Moment, in dem ich einspringen will, weil jeder Impuls in ihm erstorben ist, und ihm eine Richtung geben will, sieht er an einer Kreuzung am Ende einer langen Straße Grüne Hügel und große Bäume. Da zieht es ihn hin. Schritt für Schritt, Zentimeter für Zentimeter. Die Bäume scheinen ewig weit weg zu sein, denke ich. Er denkt gar nicht. Er geht los. Er spürt. Jahrhunderte gelebten Lebens. Hier sein und vergessen haben, weswegen. Nicht mehr wissen, wie er hier angekommen ist. Weitergehen, Schritt für Schritt, Zentimeter für Zentimeter. Irgendetwas ist dort. Nichts, was er sehen will. Nichts, was irgend eine Wichtigkeit hätte. Aber es lohnt sich, dort hin zu gehen. 


Irgendwann kommt er an. Zwischen ihm und den Bäumen eine Straße (leer, zum Glück, denn er geht einfach weiter). Zentimeter für Zentimeter geht er auf eine Brüstung mit Steinmauer zu. Dahinter, 5 Meter unter ihm, fließt die Isar. Er stellt den Koffer ab und schaut hinunter. 


Nach einer Weile setzt er sich auf eine Bank. Blickrichtung parallel zu Isar. Zwei Welten. Genau in der Mitte geteilt. Links die Isarauen. Grün. Langsam. Fließend. Rechts: Die Straße. Grau. Häuserwände. Laut. Er sitzt da. Regungslos. Schaut in die zwei Welten, die er nicht zusammen bekommt. Er lässt sie sein, wie sie sind. Nebeneinander. Trauer in der Mitte. Sie breitet sich in ihm aus, erfüllt ihn. Tränen laufen seine Wangen hinab. Es ist nicht schlimm, nicht unangenehm. Es ist, wie es ist. Hier. Jetzt. Etwas anderes gibt es nicht.  


Je länger er die beiden Welten nebeneinander existieren lässt, desto zweidimensionaler werden sie. Desto unrealer werden beide. Die Grenzen verschwimmen. Die zwischen den Welten; und die zwischen ihm und der Welt. Es gibt nur ihn. Es gibt ihn nicht.  


Irgend wann sitze ich da. Plötzlich. Schlagartig. Mir ist klar: Abschminken, umziehen, zurück verwandeln. Jetzt. Genau auf dieser Bank. Obwohl ich äußerlich noch er bin, ist er weg. 


Die Rückverwandlung ist unspektakulär. Als ich wieder ich bin merke ich, wie dringend ich auf die Toilette muss. Es schmerzt bereits. Ich gehe so schnell ich kann zur Galerie in der Bayerischen Versicherungskammer, lasse meinen Koffer an der Garderobe am Eingang stehen und verschwinde unter den kritischen Blicken des Pförtners schleunigst in der Toilette.  




Jetzt sitze ich im Café Dukatz im Lehel und weiß, dass er weiter leben wird. Während der Verwandlung war ich mir nicht mehr sicher. Eben weil sie diesmal ohne Nervosität und ohne Angst funktioniert hat. Und weil er sich ohne großen Schock oder große Gefühle erkannt hat als er sich in der Schaufensterscheibe gesehen hat.  


Vielleicht liegt es daran, dass ich mich, bzw. ihn nicht der Präsenz vieler Menschen ausgesetzt habe, wie das bisher in den verschiedenen Innenstädten der Fall war. Vielleicht war das die ersten Male nötig, damit er seine Schüchternheit und Menschenscheue kennenlernen konnte. Ich weiß es nicht. Heute hat er sich in seiner Ungebundenheit, in seiner Gebrechlichkeit und in seiner Langsamkeit kennen gelernt, ohne zu oft von schnellen, lauten und bedrohlichen Menschen abgelenkt zu sein. 


Es gibt so viel mehr, als es gibt.