Sonntag, 12. Mai 2013

München, 12. Mai 2013 - Der Hund der Fluss und ich...

Es ist Sonntag Morgen, 8:00 Uhr und ich beschließe sehr spontan, die Figur laufen zu lassen. Nicht, wie sonst aus Lust, sondern, weil ich wissen will wie es ist wenn es aus "Routine" passiert. Ich werfe alle Sachen zusammen (die Brille werde ich vergessen, das finde ich aber erst beim Umziehen heraus und es passt zu den "erschwerten" Bedingungen) und gehe aus dem Haus. Schon seit einiger Zeit stelle ich mir vor, wie es wohl aussieht, wenn die Figur an der Isar "spazieren geht". Also gehe ich Richtung Brudermühlbrücke. In den Isarauen suche ich nach einer Bank auf der ich mich umziehen und schminken kann.


Ich finde sie, etwas abseits und die Verwandlung beginnt. Allerdings sind diesmal einige Sachen anders. Zum einen bin ich nicht in der Zivilisation sondern in der Natur. Das macht die wenigen Begegnungen (Vater mit Kinderwagen, ein Nordic Walker) um einiges "intimer". Die Leute haben Zeit und es gibt keine "gemeinsame" Geschwindigkeit an die alle gebunden sind. Also bleiben sie stehen und schauen unverhohlen zu. Das passiert an belebten Plätzen normalerweise nicht.

Der zweite Unterschied ist, dass ich -bis ich mich zurück verwandeln werde- keinen Spiegel sehen werde und damit einen Teil der Verwandlung gar nicht durchmachen kann. Der Taschenspiegel, den ich zum Schminken verwende ist nicht groß genug, um einen Eindruck von der ganzen Figur zu bekommen.

Außerdem ist die Figur ihre ganze diesmalige Existenz fast keinen Hindernissen ausgesetzt.

Es fällt mir schwer in den Hintergrund zu treten. ständig "brabbelt" mein Gehirn und benennt und bewertet die Dinge, die die Figur sieht. Diesmal ist es eher ein Kampf, mich der Figur zu überlassen.

Als ich nach der Rückverwandlung auf die Uhr schaue ist es nach 10:00. Ich bin überrascht. Und ich stelle fest, das die Phasen, in denen ich es doch "in die Figur" geschafft habe wohl länger waren, als ich dachte.

Der Weg: Ich gehe über die Brudermühlbrücke. Schritt für Schritt, eine Hand am Geländer. Wenn "er" da ist, ist er wie hypnotisiert vom Strom der Autos und deren Lichter, die ihm auf dem dreispurigen mittleren Ring entgegenkommen. Mal wieder teilt ein Geländer seine Wirklichkeit. Rechts der laute Auto-Strom. Links Grün und fast nichts. Einige Autos hupen oder blenden kurz auf. Er bezieht es nicht auf sich.

Und immer wieder komme "ich" dazwischen. Mein innerer Kritiker, der fragt, was das hier eigentlich soll. Gedanken an die vergangene Woche, in der ein paar emotional anstrengende und unschöne Dinge passiert sind. Die Frage, ob die Menschen, mit denen ich Ärger hatte mich albern fänden, wenn sie sehen könnten, was ich gerade tue. Die Frage meines inneren Kritikers, ob ich meine Zeit nicht sinnvoller nutzen könnte (seine Lieblingsfrage:-)

Was für eine Übung. Erschwerte Bedingungen! Wenig innere Vorbereitung, viel innere Ablenkung, wenig äußere Aufgaben.

Ich schaffe es dennoch immer wieder in den Hintergrund zu treten und die Figur sein und führen zu lassen. Ich merke es an der veränderten Wahrnehmung und den Reaktionen der Umwelt.

Natürlich sind Sonntag Morgen an der Isar vor allem Hundebesitzer und Jogger unterwegs. Die Hunde interessieren ihn. Einmal bleibt ein brauner kniehoher Hund genau in seinem Weg stehen. Das Pärchen, dem er gehört bleibt auch stehen und schaut. Die Figur bleibt stehen und schaut dem Hund in die Augen. Der Hund schaut ohne zu Zwinkern zurück. Keine Regung, keine Aggression, keine Angst. So stehen die vier eine Weile da. Das Herrchen fragt irgendwann (ermutigend und wohl in Richtung des Hundes) "Ja und jetzt?". Der Hund schnaubt kurz aus, schüttelt den Kopf und bleibt stehen. So auch die Figur. Nach einer ganzen Weile schaut der Hund ein paar mal zwischen den Besitzern und der Figur hin und her und geht los. An der Figur vorbei. Das Pärchen lacht und geht weiter. Die Figur auch.

Ein anderes mal steht ein kleiner Hund da und schaut einem anderen nach. Die Besitzerin ist schon weiter gegangen. Irgendwann ruft sie mehrmals penetrant laut nach "Joey". Der hört erst nicht, merkt aber, dass seine Besitzerin nicht aufgibt. Er dreht sich unvermittelt in deren Richtung um und rennt los. Auf seiner Kopfhöhe ist allerdings die Unterkante meines Koffers. Er scheint weder mich noch den Koffer wahrgenommen zu haben und rennt ungebremst gegen den Koffer. Ein dumpfer Schlag, ein kurzes Winseln, der Hund rennt zu seiner Besitzerin. Die Figur ist davon vollkommen unberührt. Ich allerdings habe Mitleid mit dem Hund und finde die Situation gleichzeitig sehr komisch. Dann ruft die Besitzerin hinter mir auch noch, wie saublöd das denn sei und wie alt man den werden müsse? Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückhalten und muss kurz lachen. Nach kurzen Sinnieren, ob sie mit dem Schimpfen die Figur oder den Hund gemeint hat, und was diese Situation mit dem Alter zu tun hat, schaffe ich es, wieder in den Hintergrund zu treten und die Figur steuern zu lassen.

Jetzt fällt "ihm" das erste mal die Isar auf. Sie fließt deutlich schneller als er geht. Und für den Rest der Strecke fesselt ihn genau das. Sein Blick ist vom fließenden Wasser gebannt. Er stolpert mehrmals, weil er nicht auf den Weg schaut und wird deutlich schneller. Irgendwann bleibt er stehen geht nah ans Wasser, stellt den Koffer ab und schaut; lässt das Wasser vorbeiziehen. Das einzige Mal, dass eine Gefühlsregung in ihm aufkommt: Traurigkeit und Sehnsucht. So steht er eine Weile da. Irgendwann stellt sich ein Mann genau neben ihn. Schaut auch auf den Fluss. "Er" nimmt ihn nur war, der Mann stört ihn nicht. So stehen sie eine Weile nebeneinander und schauen auf den Fluss. Beide regungslos. Nach einigen Minuten geht der Mann weiter, die Figur bleibt noch eine Weile stehen, nimmt dann den Koffer und geht weiter.

Unter der Wittelsbacherbrücke wird klar das es für heute reicht. Größtenteils war es anstrengend und ich gehe immer noch davon aus, dass es maximal eine Dreiviertel Stunde war. Ich setze mich auf die Steinstufen direkt am Wasser, schaue eine Weile und öffne irgendwann den Koffer um mich abzuschminken und umzuziehen. Jetzt nehme ich die anderen Menschen plötzlich war. Es sind sehr viele für einen Sonntagmorgen. Auch einige Spaziergänger ohne Hunde. Mein "Umziehen" weckt Interesse, einige bleiben stehen und gucken; neben mir und auf der Brücke. Eine Frau geht nah an mir vorbei und lächelt mich an. Wieder wird mir klar, dass die Verwandlung und die Rückverwandlung für Außenstehende wohl ungewöhnlicher sein muss, als die Figur selbst. Die kann man einordnen: weiß geschminkt, schwarz angezogen - aha, ein Künstler.

Aber sich in der Öffentlichkeit umziehen und schminken oder eben abschminken passt in kein Bild und ist schon deutlich gegen die Konventionen.

Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass ich mindestens 90 Minuten unterwegs war. Mehr als alle Male zuvor frage ich mich, was ich hier tue? Ich muss an der Film "Holy Motors" denken. Die Grenzen zwischen den Wirklichkeiten verschwimmen. Was ist die wirklichere Wirklichkeit?

Klar ist, dass es jedesmal eine Erfahrung ist, die ich danach nicht missen möchte. Selbst wenn es mir, wie diesmal, schwer fällt in die Figur zu kommen. Klar ist auch, dass es immer auch eine Übung ist, das "Ich" loszulassen und in eine nichtwertende Wahrnehmung zu kommen.

Jetzt sitze ich im Café, schreibe diese Zeilen und bin einfach nur gespannt, wie es weitergehen wird mit der Figur.