Donnerstag, 24. November 2011

Selbstexperiment 3 – München, 24. November 2011

Traurig, scheu und stumm...


Ich sitze in einem Café am Isartor in München und lasse die letzten zwei Stunden nachwirken. Ich lasse kommen was kommt...

Die Verwandlung. Auf der Stufe am Denkmal am Platz vor der Staatsoper. Den Aufbruch. Nach einer Weile still Sitzen. Den langsamen Weg durch die Innenstadt. Marienplatz, Rindermarkt, Viktualienmarkt, Isartor. Es kostet mich Konzentration, die Straßennamen zu finden, jetzt beim Schreiben. Er kennt sie nicht. Er nimmt nur wahr. Eine Weile unterm Bogen im Isartor stehen. Dann, es ist dunkel, schnell abschminken und umziehen. Auf einer Parkbank. Es ist eiskalt. 

Was kommt, wenn ich jetzt nachspüre?

Die Verwandlung. Sie ist erst abgeschlossen, wenn er sich im Spiegel sieht. In einem Schaufenster, normalerweise (interessant, nach drei Mal schon von "normal" zu sprechen). Zufällig habe ich vor ein paar Tagen das Buch von Keith Johnstone aus dem Regal genommen (das dort seit Jahren unangerührt steht) und irgendwo aufgeschlagen. Es war ausgerechnet das Kapitel über Maskenarbeit und ich musste an den Workshop vor zwei Jahren denken, an dem uns Keith Johnstone ein Video über Maskenarbeit mit Steve Jarand gezeigt hat. Die Leute bekommen eine Maske aufgesetzt und schauen sich dann im Spiegel an. In dem Moment verfallen sie in eine Art Trance. Sie machen Geräusche und sind eine andere Person. Eine, die bei Null anfängt. Reden lerne muss; wachsen muss. 

Ein bisschen in dieser Art kommt er mir auch vor. Heute -im Gegensatz zum letzten mal- habe ich nichts gemacht. Er hat alles gemacht. Er ist gegangen. Der Gang manifestiert sich. Langsam, schlurfend, kleine Schritte. Er hat einen Körper. Angespannt, Schultern hochgezogen, ungelenkig, starrer Hals. Bei jedem Blick dreht er seinen Oberkörper in die entsprechende Richtung. Er hat einen Gesichtsausdruck. Ernst, leicht angewidert. Und er hat eigene "Emotionen". Oder besser: innere Zustände, die nicht neutral sind. Etwas, dass sich heute gegen Ende zu Traurigkeit verdichtet hat: Er stand am Isartor, alleine, den Koffer neben sich und war einfach nur da. Sonst niemand. Einsam. Die Menschen haben nichts mit ihm zu tun. Keinerlei Bedürfnis, mit irgendwem Kontakt aufzunehmen. 

Die Menschen, die ihn sehen, scheinen sein leicht angewidertes Desinteresse zu spüren. Ich würde sagen, sie sind verunsichert. Manche machen Kommentare. Drei Mädels fanden ihn heute "süß" und haben versucht mit ihm in den Kontakt zu kommen. Er ist schnell weiter. "genervt" oder "verunsichert" wären zu klare Gefühle. Es ist eine Art unklares Unwohlsein, das ihn weiter treibt, in einer solchen Situationen. Keinerlei Empathie. Er kann einfach nichts mit anderen anfangen. Nur zwei Menschen "dringen zu ihm durch": eine alte Frau, gebückt, die sich Schritt für Schritt vorwärts kämpft. Nach jedem Schritt muss sie ihre Große Tasche abstellen und schleift sie dann ein Stück neben sich her. Kurz begegnen sich ihre Blicke. 

Und ein Mann; er überquert mit einer dieser klassischen, kartierten Einkaufstaschen auf Rollen auf dem Radweg bei Rot die achtspurige Kreuzung am Isartor. So langsam, dass er dafür zwei Ampelphasen braucht und immer wieder mitten auf der Straße steht, wenn die Massen an Feierabendverkehr sich in Bewegung setzen. Direkt neben ihm, hupend, drohend, aggressiv. Er geht unbeirrt weiter. Wäre ich in diesem Moment ich gewesen, hätte der Mann mich fasziniert. So hat „er“ es beobachtet. Und hat die Frau und den Mann wahrgenommen als – ich suchen nach dem richtigen Wort: Mitmenschen? Gleichwertige? Ich weißes nicht genau...  Oder eben einfach nur: wahrgenommen. Die beiden waren aus seiner Welt. Nicht wie all die lauten, schnellen anderen Menschen um ihn herum, mit denen er nichts anfangen kann. 

Ansonsten sind es Momente, Eindrücke, Geräusche, Gerüche, ... Sie ziehen seine Aufmerksamkeit an. Verloren hängt er ihnen nach, bis etwas Neues seine Aufmerksamkeit holt. Gebäude, Stimmen, Laub, das aufgewirbelt wird, ein Blick zum Himmel zwischen zwei hohen Häusern, Schaufenster, Menschen hinter Scheiben, ...

Interessant ist im Nachhinein: Es scheint kein „positiv“ oder „negativ“ zu geben. Kalte Finger sind einfach nur das: kalte Finger. Die Wärme, wenn die Hand in der Hosentasche steckt ist zwar angenehm, aber eben auch nur das: Eine Wahrnehmung. Eine Veränderung. Auch die beißende Kälte ist einfach nur eine Wahrnehmung. Erst als ich mich abschminke und mir bei Minusgraden (und eh schon durchgefroren) kaltes Wasser ins Gesicht schütte, spüre ich Kälte als Schmerz und mit Widerwillen; ärgere mich, dass mir so kalt ist und ich den „Mist“ mache; mache mir Sorgen, dass ich mir vielleicht eine Erkältung geholt habe. Da ist er aber schon weg.

Mir wird klar, dass er Zeit brauchen wird. Ich hatte darüber nachgedacht, heute eine kleine Aufgabe zu stellen. Etwa: eine Sache kaufen. Oder: sprechen. Aber jeder „Zwang“ den ich ausübe bringt mich raus aus der Figur und in meine Unsicherheit und meine Kontrolle. Meine Vermutung im Augenblick: immer wieder in die Figur gehen und ihn entscheiden lassen. Darauf vertrauen, dass er schon neugierig wird (oder eben auch nicht). Darauf vertrauen, dass sich ihm die passende Herausforderung im richtigen Moment stellen wird. 

Ich sitze und schaue durch die Schaufensterscheibe auf die Straße. Es ist dunkel. Ich muss an das letzte Mal denken. „Aber dann versteckst du dich doch hinter einer Maske, oder?“ hat meine Schwester gefragt, als ich ihr erzählt habe, was ich mache. Ich konnte ihr keine Antwort geben. Da war nur das Gefühl „eben gerade nicht!“. 

Ich glaube, dass sie Recht hat und nicht Recht hat. Durch die Maske und das Kostüm bin ich weg. Ich verstecke mich nicht nur, ich trete – wenn ich es schaffe – komplett zurück und überlasse „ihm“ meine Zeit und meinen Körper. Insofern „verstecke“ ich mich hinter der Maske, weil ich mich während dieser Zeit nicht mit mir selbst befassen muss. „Ich“ habe frei (abgesehen natürlich von dem Wissen, dass im Notfall „ich“ übernehme).

Und dann verstecke ich mich gar nicht. Denn irgendetwas hat „er“ ja mit mir zu tun. Mehr vielleicht als mir bewusst ist. Es ist ja immerhin mein Körper. Und komplett kann ich meine Erfahrung auch nicht ausschalten, sonst würde ich ja bewegungslos wie ein Säugling da liegen und müsste alles neu lernen. Selbst wenn „ich“ komplett zurück trete kann er vieles, was ich kann. Auf eine Art kommt es mir vor, wie eine „Parallelwelt“ in der ich unterwegs bin. Oder besser ein „Parallel-Ich“, dass in meiner Welt unterwegs ist. So oder so ist die Maske und das Kostüm der schnellste Weg heraus aus Wissen und Konvention. Zumindest für eine kurze Zeit. Also: genau das Gegenteil von Verstecken. 

Und dann gibt es da noch eine dritte „Instanz“: Immer wieder scanne ich „hinter“ ihm, welche Orte und Situationen wohl von außen eine gewisse Ästhetik oder „visuelle Poesie“ hätten, wenn er darin wäre. Eine Art „Inszenierung“, sowohl für ihn (um die Situation oder den Ort zu erleben) als auch für die anderen, wenn sie es denn überhaupt wahrnehmen. Das allerdings interessiert weder ihn noch mich. Mir geht es in diesen, seltenen Momenten eher darum, eine eigene, kleine „Wirklichkeiten“ außerhalb der Konventionen zu schaffen. 

Donnerstag, 3. November 2011

Ein Selbstexperiment – die Zweite – Köln, 2. November 2011

Keine Vergangenheit. Keine Zukunft.


Es ist 19:30. Ich sitze im Café am Kölner Hauptbahnhof. Gerade habe ich mich auf der Mc Clean Bahnhofstoilette umgezogen. Ich bin wieder ich. Auf dem Rausweg aus der Hochglanztoilettenanlage haben mich die eindringlichen Blicke des Putzmannes verfolgt. Der arme hatte wohl Bedenken, ich sei ein Junkie und hat „wie zufällig“ alle zwei Minuten an der Türklinke gerüttelt, um eine Reaktion zu bekommen. Ich habe gefühlte zehn Mal „Besetzt“ oder „Immer noch besetzt“ geplärrt. Auch die Tatsache, dass ich mir am Waschbecken das Gesicht wasche scheint sein Misstrauen nicht zu verringern...

15:30 Uhr. Ich komme am Kölner Hauptbahnhof an, sperre meine Tasche in ein Schließfach und gehe zum Rhein. Etwas abseits beginne ich, wie beim letzten Mal in Augsburg, mich zu schminken, umzuziehen und bleibe dann erst mal ein bisschen auf der Bank sitzen. Ich komme schwer in die Figur.

Im nachhinein denke ich, dass ich die „Verwandlung“ nicht besonders sorgfältig und bewusst gemacht habe. Außerdem glaube ich, dass ich an die Erfahrungen vom letzten Mal anknüpfen will. Zusätzlich habe ich mich vorher nicht gefragt, warum ich das mache. So habe ich sehr lange eine Stimme mitlaufen, die immer wieder Zweifel anmeldet. Derweil interessieren mich die Reaktionen der Menschen nicht und ich nehme sie kaum war. Die Auseinandersetzung findet „innen“ statt. Ich und „er“.

Zwei Stunden bewege ich mich durch die Kölner Fußgängerzone. Was passiert?

„Er“ fühlt. Von angestrengt sein über Traurigkeit bis hin zu Freude. Er sieht andere in „Maske“, die Luftballons zu Blumen oder Figuren formen oder mit einer Gruppe Kindern singen. Sie haben nichts mit ihm zu tun. Er nimmt viele Menschen war, die da sitzen und Becher oder Hüte hinhalten. Scheue Menschen. Wenn sie ihn sehen schauen sie weg. Sie sind traurig. 

Die ganze Zeit hat er den versteinerten Gesichtsausdruck vom letzten Mal. Er (oder ich?) versucht an den scheuen, ängstlichen Charakter anzuschließen. Ohne Erfolg. Er „kommt“ nicht, weil ich versuche, ihm zu sagen, wer er ist.

Wenn er da ist, nimmt er Köln war. Faszinierend. Unerklärlich. Viel zu viel. Zu viele Menschen, zu viele Lichter, zu viele Dinge, zu viele Lärm, zu viele Gerüche. Unentschlossen und unangenehm berührt geht er in eines der Kaufhäuser. Vorbei an einem prüfend schauenden Sicherheitsmann an der Tür. Totale Reizüberflutung. Keine Ahnung, wofür man all die Dinge braucht. Keine Ahnung, was all die Menschen tun. Sie sind alle wahnsinnig schnell. Sie schauen ziemlich ausdruckslos. Freudlos. Sie reden, telefonieren, räumen Sachen auf, schauen sich gegenseitig an, nicken oder schütteln den Kopf und verschwinden dann hinter Vorhängen, um kurz darauf anders gekleidet wieder hinter den Vorhängen hervor zu kommen.

Er ist froh, als er wieder draußen ist. Er verliert die Scheu. Langsam. Und er wird schneller. Langsam.  Dennoch: Köln ist unbehaglich! Immer wieder innere Dialoge. Er, ich und der Kritiker. Und doch gibt es immer wieder Momente, in denen er all die Eindrücke einfach nur wahrnimmt. Schaut, hört, spürt, riecht.

Sprache funktioniert nicht. Sprache ist meine Sprache. Nicht sein. Er bestellt einen Tee in einem kleinen Doughnut Laden. Steht am Fenster, schaut nach draußen und trinkt Tee. Immer wieder nimmt er Kontakt zu den vorbeigehenden Passanten auf. Dabei sieht er gleichzeitig sein Spiegelbild in der Scheibe. Versteinert. Er entspannt sein Gesicht. Entdeckt Zuzwinkern und ein leichtes Lächeln. Ansonsten gefällt er sich mit hochgezogener Augenbraue und leicht angewidert verzogenem Mund. Oder gefällt er mir?

Ein Junge im Doughnut Laden will ein Foto mit ihm. Er stellt sich neben ihn, hält die Kamera auf beide und blitzt. Danach zeigt er ihm das Foto. „Cooles Bild“. Aha. Er kann nichts damit anfangen. Er nickt.

Danach geht er flott, leichtfüßig, manchmal getrieben zurück zum Dom. Dort wird er wieder langsam. Setzt sich auf die obere Stufe und schaut in Richtung Hauptbahnhof. Links und Rechts fließen die Menschen vorbei. Manche bemerken ihn, manche nicht. Er beobachtet sie. 

Jetzt eine Einsicht: (Seine? Meine? Ich weiß es nicht genau) All diese Menschen haben eine Geschichte. All diese Menschen haben ein Ziel. Haben Aufgaben. Denken über irgend etwas nach. Sind beschäftigt. Oder etwas beschäftigt sie. Sogar den jungen Mann in Kapuzenshirt mit Nasenring, der reglos neben ihm sitzt und nach vorne starrt. Nur „er“ sitzt da und hat all das nicht. Keine Vergangenheit. Keine Zukunft. Keine Zwänge. Kein Ziel. Er darf schauen. Er darf einfach nur hier sitzen. Es gibt keinen Menschen, der auf ihn wartet. Niemand kennt ihn, er kennt niemanden. Freudige, traurige Freiheit – für ihn. Befristete Befreitheit – für mich. Temporäre Existenz als Gestalt gegen den Hinterrund eines Lebens mit Geschichte, Beziehungen, Zielen, Zweck: mein Leben.

Es wird Zeit, wieder von ihm zum ich zu werden. Ich weiß auch, dass es dies mal auf der Bahnhofstoilette passiert. Es ist dunkel und die Rückverwandlung in der Öffentlichkeit macht wenig Sinn. Im Dunkeln könnte sie missverstanden werden. Konfrontation ist nicht das Ziel. Im Bahnhof ist er noch mal komplett da. Steht. Schaut. Jetzt nimmt er die Reaktionen der Leute war. Reagiert. Lächelt; manchmal.

Dann einen Euro in das Mc Clean Drehkreuz und in die einzige freie Kabine. Unter den misstrauischen Blicken des Putzmannes...

Fürs nächste Mal? 
Das innere Erleben mehr nach außen bringen. 
Bei Null anfangen – ihn entstehen lassen. 
Mit meiner Außenwahrnehmung dabei bleiben – wie es am Ende auf dem Domplatz und im Hauptbahnhof noch einmal passiert ist: das Gesamtbild mit ihm drin sehen und dennoch komplett „er“ sein und jeden Moment neu erleben. 

Freitag, 28. Oktober 2011

Ein Selbstexperiment - Augsburg, 28. Oktober 2011

Erfahrungen einer "neuen Figur"...


In Augsburg am Marktplatz, ca. 14:00 Uhr. Ich setze mich auf eine Bank, öffne den alten Koffer und esse erst einmal eine Semmel. Ein „Akrobat“ – wie er sich selbst bezeichnet – spricht mich auf meinen alten Koffer an. Was darin sei, ob ich Zauberer sei? Ich sage die Wahrheit: Es sind nur Klamotten drin. Er erzählt kurz von sich und geht weiter. 

Neben mir zwei Frauen. Die eine saß vor mir da, die andere kam nach mir dazu. Ich beginne, mein Gesicht weiß zu schminken. Langsam und mit Bedacht. Ich tue es, ohne Aufmerksamkeit bekommen zu wollen. Es ist ein Selbstversuch. Kein Geld. Nur Schminken, um deutlich zu machen, dass es um eine „Performance“, um einen Bruch in der Wirklichkeit geht. Um zu zeigen, dass ich nicht einfach nur ich bin. Wem ich das eigentlich zeige, weiß ich da noch nicht.

Ich bin fertig und trage Kajal auf. Dann die Lippen rot. Mein rot, aber eben Maske und plakativ. Nicht überzeichnet. Ich ziehe mir das weiße Hemd an, setze mir den schwarzen Hut auf. Jetzt kommt der heikelste Teil. Die zweite Dame, die nach mir gekommen ist, hat sich bereits mit einem unverständlich genuschelten Kommentar verabschiedet. Ich mache meine Hose auf. Leicht entschuldigend schaue ich zu der verbleibenden Dame, die offensichtlich amüsiert neben mit sitzt und mein „Muss sein“. „Solange Sie sich nicht ganz ausziehen...“. „Nein, keine Sorge“. Na dann. 

Eine Gruppe Jungs, die mich offensichtlich beobachtet, pfeifen, als ich die Hosen runterlasse. Natürlich trage ich eine knielange Schort. Ich schlüpfe in die schwarze Hose, ziehe die schwarze Weste an, knöpfe sie in aller Ruhe zu, dann das Seidentuch, die Schuhe und zu guter Letzt den Frack. Alles sehr bewusst und in Ruhe. Dann die schwarzen Handschuhe. Von „mir“ ist jetzt nichts mehr zu sehen.

Meine „zivilen“ Klamotten stecke ich in den Koffer, schließe ihn und stelle ihn neben mich. So sitze ich kurz und schaue, was passiert. Nichts. Äußerlich zumindest. Innerlich hat sich alles verändert. Noch weiß ich nicht genau, was. Ich stehe langsam auf, schaue die Frau neben mir an, reiche ihr die Hand und wünsche ihr einen guten Tag. Langsam, sehr langsam gehe ich los. 

Es ist, als wäre ich gerade auf diesem Planeten gelandet. Alles neu. Die Menschen beängstigen mich. Ich humple. Nicht absichtlich. Ich schleife mein linkes Bein hinterher. Mein Rücken ist verspannt; der Koffer schwer. So gehe ich die Fußgängerzone entlang und nehme war. Ich lasse „ihn“ sein, wie er ist. Scheu, ängstlich und mit großen Augen. Ich beobachte die Menschen und ihre unterschiedlichen Reaktionen. Manche lächeln, manche weichen mir aus, manche zeigen auf mich. 

Die größte Überraschung? Ich kann keine Miene verziehen. Und: ich bringe keinen Ton raus. Interaktionen finden nur per Blick, Deuten und Nicken, bzw. Kopfschütteln statt. Ich sehe mich in einer Schaufensterscheibe und erschrecke. Keine Mimik. Ein leeres Gesicht. Bis auf die Augen. Die leben. Ich, oder besser: er lässt sich von jedem neuen Eindruck ablenken und folgt diesem, bis ein anderer Reiz neuer oder interessanter ist. Und alles ist interessant. Ich stehe vor einer Wand und nehme sie neu war. Ich schaue Menschen an und staune. Autos erschrecken mich. An einer Ecke renne ich fast in eine schwarze Frau. Wir erschrecken beide. Ich lasse alle Gefühle ungebremst zu und durch mich durch. Es ist, als gäbe es mich (Thomas) nur noch als „Notfallinstanz“. Ich bin mir dessen die ganze Zeit bewusst und weiß, dass ich das Experiment jederzeit abbrechen kann. Auf der anderen Seite hat „der neue“ schon das Ruder übernommen. Er lernt. Dass man bei „Grün“ über die Straße geht. Dass Autos gefährlich sind. Das man angeschaut wird. Dass die Menschen in den Kontakt treten, oder scheu sind. Das Eltern auf ihn zeigen und ihren Kindern irgendetwas sagen. Die Kinder schauen meistens neugierig aber emotionslos herüber. Aus einer sicheren Entfernung. Er schaut ebenso zurück. Oft setzt er sich auf eine Bank. Eingeschüchtert, verloren, neugierig. Manchmal läuft er vor Menschen davon, wenn er ihnen zu nahe kommt und nicht ausweichen kann. Es ist alles neu. Einer spricht ihn an: Wohin die Reise gehe? Kurz bin ich wieder auf dem Plan. Teilweise zumindest. Ich verstehe, übersetze, er reagiert: deutet mit der Hand in eine Richtung.

Interessant ist: Sobald andere mit ihm in verbalen Kontakt treten, tritt er ein wenig zurück um „mich“ zu Hilfe zu holen; zu übersetzen. Sprache macht keinen Sinn. Selber sprechen ist unmöglich. Ebenso, wie es praktisch unmöglich ist, das Gesicht zu bewegen; jeder Millimeter fühlt sich fremd an; fast schon wie Gewalt gegen sich selbst.

Er verlässt die Fußgängerzone, geht an Straßen entlang. Cafes, Geschäfte, Büros. Er nimmt alles zum ersten Mal war. Was die Menschen da tun? Spielt keine Rolle! Sie sind halt da. Einmal setzt er sich auf eine wackelige Bank, bestehend aus zwei Snow-Boards. Sitzt da, verloren, traurig, neugierig, zufrieden. Zeit scheint auch keine Rolle zu spielen. Menschen gehen oder fahren an ihm vorbei, schauen ihn an. Lächeln, schütteln den Kopf, zeigen auf ihn. Auf einer Bank in einem Abschnitt des Stadtmarktes, in dem alle Buden geschlossen sind beobachtet er die wenigen Menschen, die vorbeihasten. Der Ort ist schön. Das scheinen die anderen nicht so zu sehen. Einer verliert seine Sonnenbrille. Er merkt es erst, als derjenige nach zwei Minuten zurück kommt und sie an der Stelle aufhebt, an der er sie anscheinend verloren hat. An einer Kreuzung wirft ihm ein beeindruckend aussehender Mann auf einem Fahrrad ein „Grande mascera, grande mascera!“ zu. „Er“ erschrickt, „ich“ fühle mich geschmeichelt.

Einmal herrschen ihn zwei aufdringliche junge Männer an: „Los renn halt wieder“. Hier passiert der einzige wirkliche Bruch in der Figur. Er tritt zurück, ich beschließe, auf sie zuzurennen und schreie dabei. Der eine bleibt stehen. „Uh, da habe ich aber jetzt wirklich angst“. Ich erinnere mich, dass ich immer spielerisch und wertschätzend mit den Menschen umgehen wollte, die mit mir in den Kontakt treten. Gleichzeitig ärgere ich mich über die „platte Anmache“. Ich berühre seine Schulter und sage „Ich mag Dich“. Jetzt ist Angst in seinen Augen und seiner Stimme wahrzunehmen. „Finger weg!“ droht er leise. Ich nehme meine Hand weg, drehe mich um und tief aus mir kommt ein leises, dreckiges Lachen. Es dauert kurz, dann kommt „er“ zurück, der das alles aus einer gewissen inneren Distanz beobachtet hat. Wie gesagt: ein Bruch. Der einzige.

Nach ca. zwei Stunden wird er müde. Es ist klar: Er – und inzwischen wieder ein bewusster und aktiver Teil von mir – beginnen einen Platz für die „Rückverwandlung“ zu suchen. Von Anfang an stand fest, dass auch das in der Öffentlichkeit passieren würde. Es fühlt sich so an, als würden wir „gemeinsam“ eine passende Grünfläche suchen. Dabei gerät er in den Friedhof und ist gezwungen, eine Runde zu drehen. Ich bin wieder nur Beobachter. Er handelt. Es kommt ein erstes, vorsichtiges Gefühl außer Scheu auf. Trauer. Kurz aber deutlich spürbar. Schnell raus hier.

Nach weiteren 10 Minuten findet sich eine Bank am Rand vom Stadtpark. Hinter mir eine stark befahrene Straße, vor mir ein Radweg. Ich setze mich, öffne den Koffer, schminke mich ab, ziehe mich wieder mit bedacht um und packe „seine“ Klamotten und die Schminksachen wieder in den Koffer.

Ich bin wieder ich. Ich bin mir bewusst, dass „er“ im Koffer ist. Ich bin froh und traurig zugleich. Die Welt ändert sich recht flott zu der zurück die ich so gut Kenne; deren Konventionen ich in Fleisch und Blut habe. Autos sind Autos, Menschen sind Menschen und ein Blickkontakt mit einem Fremden darf nicht zu lange dauern. Ich brauche eine viertel Stunde zum Bahnhof, steige in den Zug und Fahre zurück nach München.

Zwei Tage später ist klar: Das Experiment hat zwei Hemden verschwinden lassen (aber das ist eine andere Geschichte) und „er“ wird weiter leben. In absehbarer Zeit. An einem anderen Ort. Vielleicht auch mal mit einem anderen Performer zusammen. Ich bin gespannt, wie es dann weiter geht: was er sieht, ob und welche Gefühle er entwickelt, ob er sprechen lernen wird, ...