Samstag, 8. März 2014

Vom Selbstexperiment zur Performance-Praxis

München, 8. März 2014

Es ist zu einer Art Praxis geworden. Zumindest hat es sich heute so angefühlt.

Ein relativ spontaner Entschluss. Schönes Wetter, freier Samstag; Figur.
Ich glaube alles zusammen, packe den Koffer und gehe los. Wie immer verändert schon das Wissen um die Verwandlung die Wahrnehmung. Ich steige in die U-Bahn und es wird klar: Haltestelle Uni. Ich setze mich noch auf einen Tee in ein Straßenkaffe und lasse mich dann treiben auf der "Suche" nach einem guten Platz. Keinerlei Nervosität. Vor der Kunstakademie an einem Ende einer Steinmauer findet sich der Ort für die Verwandlung. Ein paar Studentinnen und Studenten sitzen auf den Stufen und auf der Auffahrt in der Sonne. Keiner scheint mich zu registrieren.

Die Verwandlung - bewusster denn je. Wie gesagt: keine Unsicherheit, keine Angst; unspektakulär. Auch das "Reinkommen" in die Figur nicht mit Schwierigkeiten verbunden. Kurz ist ein Teil von mir da, der sagt: "nicht schon wieder, das ist doch langweilig, das kennst Du doch schon". Dem muss ich mich kurz zuwenden, dann tritt er zurück. Ich gehe. Der leicht angewiderte Misanthrop ist wieder da. Er weicht Menschen aus (Schwabing ist selbst in den Nebenstraßen an einem sonnigen Samstag erstaunlich belebt), seine Aufmerksamkeit wandert dorthin, wo etwas oder jemand sein Interesse weckt, bis etwas neues in den Fokus kommt.

Eigentlich will ich nach einer Weile aufhören. Ich komme an den Park hinter der LMU Mensa, den ich schon vorher zum Zurückverwandeln als sichere Möglichkeit im Blick hatte. Aber es ist zu kurz. Es ist noch nichts neues passiert. Mein "gelangweilter" Teil kommt wieder und fragt, was denn schon passieren soll. Das alleine ist Grund genug weiter zu gehen.

Und ab jetzt wird es spannend, denn die Gehsteige werden immer voller. Ich versuche die Leopoldstraße zu vermeiden, was sich aber nicht durchhalten lässt. Stress und Druck entstehen. Er geht sehr schnell für seine Verhältnisse. Und aus dem Stress, der Scheu, der Unmöglichkeit auszuweichen, den vielen Eindrücken und der Fassungslosigkeit, die sich breit macht über all diese komischen Wesen um ihn herum entwickelt sich Energie. Plötzlich bewegt er sich. Aus der Mitte heraus entstehen angespannte Bewegungen. Die Finger der Hand, die den Koffer nicht hält bekommen ein Eigenleben. Der Arm bewegt sich. Der Schritt ändert sich und Spannung wandert durch den Körper. Mal zwischen den Schulterblättern, dann im Rücken, in der Hüfte, in den Beinen. Er "äußert" sich durch entsprechende Bewegungen. Von Außen muss es aussehen wie ein  tanzender Säugling in Frack mit Koffer. Für ihn sind es vollkommen bedeutungslose Bewegungen. Nur Körper. Keine Gefühle, keine Gedanken; nur Impulse.

Ebenso das Gesicht. Auch hier wandern Spannungsimpulse durch die Muskulatur. "Dem ist spei-übel" höre ich einen Sagen und tatsächlich entspricht der innere Zustand am ehesten dem was man mit dem Gefühl "Abscheu" beschreiben könnte. Jetzt ist mein Fokus eine Weile auf seinem Gesicht und ich schaue sein Spiegelbild immer wieder in Fenstern an. Sein Gesicht ist maskenhafter als je zuvor und es ändert sich ständig. Am liebsten würde ich eine Weile nur seine Mimik beobachten. Aber das würde ihn ablenken. Also halte ich mich zurück. Er bekommt das nicht mit. Er ist weiterhin damit beschäftigt, den Menschen auszuweichen und hört nur auf einen Impuls: raus aus der gefährlichen Situation.

Ich weiß, dass der Englische Garten die nächste Möglichkeit ist, sich abzuschminken und umzuziehen. Dazu muss ich aber über die Leopoldstraße. Ein aberwitziges Unterfangen. Und klar funktioniert es nicht. Eine Ampel ja, die zweite nach der Verkehrsinsel ist rot. Egal, er geht weiter, getrieben von der Idee, aus dieser überfüllten Situation endlich rauszukommen. Zwei Autos hupen. Panik bei ihm. Reaktion? Er schaut nach unten und geht weiter. Ich lasse ihn, weil ich mitbekomme, das alle warten. Die Autos hupen weiter.

Kurz vor dem Englischen Garten eine Kirche mit einem leeren Park und Bänken. Kein Ort, den die vorbeiziehenden Menschen (wahrscheinlich alle auf den Weg in den Englischen Garten, um die Sonne zu genießen) beachten. Er geht hinein, setzt sich auf eine Bank und schließt die Augen. Der Stress lässt nach, eine Träne läuft ihm über die Wange. So sitzt er mit geschlossenen Augen, hört die Vögel zwitschern, die Menschen auf der Straße murmeln und lässt sich den Wind übers Gesicht streichen. Nach einer weile macht er die Augen auf und ist weg. Selten hat der Wechsel so schnell und klar stattgefunden. Ich weiß nicht wer mit geschlossenen Augen aufmerksam zugehört hat, denn da waren keine Gedanken, Bilder, Emotionen oder sonst etwas, was ich ihm oder mir zuordnen könnte. Aber beim Öffnen war er weg und ich da.

Ich ziehe mich langsam um, schminke mich ab und stelle fest, dass er über eineinhalb Stunden unterwegs war. Und ich stelle fest das es unspektakulär war; insofern, als ich kein einziges Mal übernehmen oder eingreifen musste; und insofern, als die "Verwandlung" in beide Richtungen schnell und ohne große Ablenkung passiert ist.

Auf der Suche nach einem Café, in dem ich meine Gedanken aufschreiben kann bemerke ich zwei Dinge: zum einen ist es immer mehr die Praxis und die Übung, die den Reiz ausmacht und nicht mehr so sehr die Spannung, die durch das Überschreiten von Konventionen entsteht oder die Frage, wo es mit ihm hingeht (das passiert eh). Zum anderen kommt mal wieder die Frage, warum ich das tue und sehr schnell ist eine Antwort da, die immer wieder kommt; ein Zitat, das -wie so viele- sowohl Gandhi als auch Nelson Mandela zugeschrieben wird: "Be the change that you want to see in the world". Ich möchte gerne mehr davon sehen!