Wo anfangen?
Es ist so viel! Am besten am Anfang. Sonntag Morgen um 7:45 Uhr am Odeonsplatz in München. U-Bahn Zwischengeschoß. Es hat geregnet und es ist nass. Im Vorfeld gab es viele Ideen, was heute alles passieren sollte. Der ursprüngliche Plan hatte gar nichts mit der Figur zu tun sondern mit Weihnachten. Über die Wochen blieb am Ende nur eines: am Sonntag Morgen vor Weihnachten in der leeren Stadt verwandeln. Und was auch blieb war die Idee, "ihn" zu filmen. Je länger ich am Abend davor darüber nachdenke, desto klarer wird mir, was für ein Experiment alleine das ist. Alle anderen Aufgaben, die ich ihm stellen wollte sind damit vom Tisch. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern, um was es eigentlich geht: um das Erleben. Nicht um Darstellen, nicht um ein fertige Bild, nicht um Wirkung.
Um 8:00 kommt -wie vereinbart- Sarah, eine Freundin, der ich soweit vertraue, dass ich sie gefragt habe, ob sie mich/ ihn filmen will. Ursprünglich, weil ich ein bestimmtes Bild mit "ihm" vor Augen hatte, aber -wie gesagt- darum geht es dann schon lange nicht mehr.
Im Zwischengeschoss sind U-Bahn Wachen unterwegs, also wird nichts daraus, mich hier, geschützt vor Wind und Nässe zu verwandle. Ich begrüße Sarah, wir gehen zum Dianatempel im Hofgarten. Ich merke, wie unsicher ich bin. Die Verwandlung und „seine“ Existenz so bezeugen zu lassen, so bewusst danach zu fragen, macht mich nervös.
Meine Hoffnung, dass es unter dem Dach des runden Dianatempels trocken ist, wird nicht erfüllt. Egal. Zusätzlich müssen wir über die schweren Absperrketten steigen, die uns vor Dachlawinen warnen. Kurz beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Wird er da raus kommen? Ich muss mich aktiv daran erinnern, dass das sein Problem ist.
Ich beginne, mich umzuziehen, Sarah beginnt zu filmen. Es ist komisch, gefilmt zu werden. Bei etwas, dass immer nur als Selbstexperiment gedacht war. Es geht nicht um Wirkung. Und dennoch verändert es alles. Ich mache alles noch bewusster. Als Thomas stört mich das Filmen auch noch nicht. Aber im laufe der dann folgenden 10 oder 15 Minuten -in denen er entsteht- wird klar: das beobachtet und gefilmt Werden ist eine riesige Herausforderung für ihn.
© Sarah Schill
Zuerst steht jedoch eine andere Aufgabe an: aus dem runden Tempel mit seinen acht Torbögen herauskommen. Jeder Bogen ist mit einer schweren, schaukelnden Eisenkette verhängt. Für ihn ein unüberwindbares Hindernis.
Er hat keinerlei Impuls, über die Kette zu steigen. Ich trete kurz ein Wenig in den Vordergrund. Eine Sekunde habe ich Sorge, dass seine gesamte heutige Existenz nur im kleinen Rund des Dianatempels stattfinden könnte. Innerlich muss ich grinsen. Er steht immer noch vor einer der Ketten und schaut raus. Ich "interveniere" und gebe ihm den Impuls, über die Kette zu steigen. Es ist umständlich und gefährlich.
Das mit dem ich -also Tom- und er -also die Figur- ist so eine Sache. Ich bin immer da. ab dem Ende der Verwandlung bis zum Entschluss, wieder zu mir zu werden. Ich kann komplett zurücktreten. Dann entscheidet er; und ich habe eine Art versteckte Beobachterposition. Er erlebt, ich erlebe aus seiner Perspektive mit. Oft komme ich in "mein" Bewusstsein und muss mich dann aktiv darauf fokussieren, er zu sein, oder besser: ihn sein zu lassen. In Situationen, in denen er einen Impuls braucht, oder in denen es gefährlich wird kann ich allerdings weniger oder mehr in den Vordergrund treten. Der Wechsel ist fließend und stufenlos und klappt dieses Mal sehr gut.
© Sarah Schill
Muss er auch, denn ich will, dass es von ihm ein paar gute Fotos und Filmsequenzen gibt. Sarah macht das super. Hält sich komplett im Hintergrund. Nur ganz selten geht sie vor ihm und macht Aufnahmen von vorne oder sogar aus der Nähe; von seinem Gesicht. Für ihn eine Qual. Ich zwinge ihn, Sarah nahe ran zu lassen. Es ist fast Gewalt, die ich ihm antue. Er fühlt sich verraten. Verraten von mir. Tatsächlich kommt es mir jetzt, wo ich im Café sitze und meine Erlebnisse reflektiere vor, wie ein böser Vertrauensbruch. Dieser Scheue, traurige, vorsichtige Mensch, abhängig von mir (denn nur so kommt er in seine Existenz) wird von just dem einzigen, den er hat, gezwungen, einen anderen Menschen so nah ran zu lassen. An einer bestimmten Stelle kommen ihm Tränen. Er kann es nicht fassen, aber er lässt es zu, vielleicht, weil er weiß, dass er keine Wahl hat.
Sarah erzählt mir danach, als wir noch einen Kaffee trinken, wie unangenehm es ihr war trotz der klaren Zeichen der Unsicherheit und der Abneigung so nah ran zu gehen und ihn so zu verfolgen. Ich bin ihr dankbar. Aus vielen Gründen. Zum einen, weil die Beobachtung das Erleben der Verwandlung (hin und zurück) noch bewusster macht. Eine Zeugin bringt die Außensicht klarer zum Vorschein. Die Folge für mich: ich muss mich noch klarer entscheiden, muss mich noch bewusster darauf einlassen.
Ein weiterer Grund, dass ich mich sehr freue, dass Sarah filmt ist, weil es "ihm" eine komplett neue Erfahrung bringt. Das Gefühl "ausgeliefert" zu sein. Es verändert die Beziehung zwischen mir und ihm. Ich zwinge ihn zu etwas, was ihm höllisch unangenehm ist. Was ihn wütend macht. Und diese Wut, auch wenn sie nur in Momenten verzweifelter Trauer ihren Ausdruck finden, ist eine komplett neue Erfahrung.
© Sarah Schill
Der Weg, den er heute zurücklegt ist sehr kurz. In einer halben Stunde vom Hofgarten auf den Odeonsplatz, dort verweilen und dann zurück zum Eingang des Herkulessaals. Unter dem schützenden Vordach öffne ich meinen Koffer, ziehe mich um und schminke mich ab.
Nach der Rückverwandlung macht es ein weiteres Mal einen riesiger Unterschied zu wissen, dass da wer ist, der das alles aus der Nähe und bewusst miterlebt und bezeugt hat. Ich bin dankbar, dass jemand da ist, mit dem ich darüber reden kann. Obwohl dass erst mal gar nicht möglich ist, weil ich die Spannung, unter der ich stehe loswerden muss. Ich komme mir vor, als hätte ich ihn betrogen. Als hätte ich ihn missbraucht. Oder besser sein Vertrauen und seine Abhängigkeit missbraucht. Das Wissen, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt hilft nicht. Und außerdem: es gibt ihn ja; zumindest zeitweise.
Also: diesen Gefühlen nachspüren. Dem Mitgefühl mit ihm, das noch eine ganze Weile anhält. Meinem Gefühl, fast schon gewalttätig gewesen zu sein, auf jeden Fall aber übergriffig. Nach einer Weile fällt auch dieses Gefühl ab; nachdem ich mit Sarah reden kann. Erzählen kann. Ihre Erlebnisse anhören kann; Schilderungen, die mein und sein Erleben bestätigen.
Hilfreich ist auch, bezeugt zu bekommen, was bisher ja nur als Selbstexperiment im Raum stand. Ein Erleben, dass ich mit niemandem teilen konnte. Ich kann es beschreiben in einem Blog, reflektieren im Gespräch mit anderen, aber es bleibt ein Wiedergeben einer Wirklichkeit, die so komplett surreal ist, dass sie mich immer wieder beängstigt. Das ist von heute ab anders. Ich bekomme Rückmeldung. Von Außen. Von einem Menschen, dem ich vertraue. Und die deckt sich mit dem, was ich, bzw. er in dieser Zeit der Parallel-Existenz erleben. Das ist beruhigend. Und: es gibt Bilder und Videos. Die Bilder bekomme ich später. Ich bin gespannt. Im Augenblick bin ich mir gar nicht sicher, ob ich sie sehen will. Sie könnten eine weitere Perspektive für mich bringen, von der ich nicht weiß, ob sie nicht wieder alles verändert. Bisher kennt er (und ich) nur sein Spiegelbild. Für ihn wird sich das nicht ändern, außer ich zwinge ihn irgendwann, in seiner Existenz Bilder oder Filme von ihm anzuschauen. Für mich wird sich etwas ändern, weil ich dann Bilder von ihm habe, ohne sie durch ihn wahrzunehmen, wie das etwa mit Spiegelbildern in Schaufenstern ist, die ja zu kompletten Verwandlung nötig sind.
Oder besser gesagt: sie waren es. Bisher habe ich die Erfahrung gemacht, dass er erst vollkommen er ist, wenn er sein Spiegelbild gesehen hat. Diesmal war es anders. Vielleicht lag es an der Außenperspektive durch die Kamera. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war er schon in dem Moment komplett da, in dem ich den Koffer nach dem Umziehen geschlossen habe. Da muss ich ihn zwingen, nochmal zu gucken, ob nicht etwas von mir liegengeblieben ist. Ihn interessiert das nicht. Er will einfach nur losgehen.
© Sarah Schill
Viel Neues. Für ihn. Für mich. Für die "Beziehung" zwischen ihm und mir. Erst durch das Experiment des Filmens, des bezeugt Werdens und des penetrant verfolgt Werdens wird mir überhaupt bewusst, dass es sie gibt und welche Züge sie hat, die Beziehung zwischen mir und ihm. Und wie verletzlich sie ist.
Ich bitte Sarah beim Kaffee danach, mir die Bilder zu schicken und einen Film zusammenzuschneiden. Sie sagt ja. Ich bin Froh. Jetzt wird mir klar, dass ich schon die Bilder heikel finde. Aber das Filmmaterial sichten und zusammenschneiden? Danke, dass kann ich nicht. Das würde mich so in die Außenperspektive und auf die Eben der "Wirkung" bringen, dass ich mir sorgen machen würde, ob ich danach jemals wieder in diese Parallele Wirklichkeit eintauchen kann, ohne permanent die Wirkung als Störfaktor zu haben. Und das fühlt sich so an, als wäre es ein noch größerer Verrat an ihm und meine Beziehung zu ihm, als es die Aktion heute schon war. Ich glaube, er muss jetzt erst mal wieder ein Bisschen Vertrauen zu mir fassen:-)
Als ich Sarah verabschiedet habe, beschließe ich, mich noch kurz in ein Café zu setzen und die Gedanken für den Blog aufzuschreiben. Jetzt, über eine Stunde nach der Rückverwandlung, nach dem Gespräch mit Sarah und nach der zweiten Tasse Tee, bei Weihnachtsmusik, die im Café läuft komme ich langsam zur Ruhe. Das war das aufwühlendste Erlebnis mit ihm und für ihn. Bisher.
14:30 Uhr: Gerade sind die Fotos gekommen...
Danke an: Sarah. Für die Mischung aus großem Einfühlungsvermögen und Hartnäckigkeit und für die Offenheit; hat ihn und mich weitergebracht...