Donnerstag, 3. November 2011

Ein Selbstexperiment – die Zweite – Köln, 2. November 2011

Keine Vergangenheit. Keine Zukunft.


Es ist 19:30. Ich sitze im Café am Kölner Hauptbahnhof. Gerade habe ich mich auf der Mc Clean Bahnhofstoilette umgezogen. Ich bin wieder ich. Auf dem Rausweg aus der Hochglanztoilettenanlage haben mich die eindringlichen Blicke des Putzmannes verfolgt. Der arme hatte wohl Bedenken, ich sei ein Junkie und hat „wie zufällig“ alle zwei Minuten an der Türklinke gerüttelt, um eine Reaktion zu bekommen. Ich habe gefühlte zehn Mal „Besetzt“ oder „Immer noch besetzt“ geplärrt. Auch die Tatsache, dass ich mir am Waschbecken das Gesicht wasche scheint sein Misstrauen nicht zu verringern...

15:30 Uhr. Ich komme am Kölner Hauptbahnhof an, sperre meine Tasche in ein Schließfach und gehe zum Rhein. Etwas abseits beginne ich, wie beim letzten Mal in Augsburg, mich zu schminken, umzuziehen und bleibe dann erst mal ein bisschen auf der Bank sitzen. Ich komme schwer in die Figur.

Im nachhinein denke ich, dass ich die „Verwandlung“ nicht besonders sorgfältig und bewusst gemacht habe. Außerdem glaube ich, dass ich an die Erfahrungen vom letzten Mal anknüpfen will. Zusätzlich habe ich mich vorher nicht gefragt, warum ich das mache. So habe ich sehr lange eine Stimme mitlaufen, die immer wieder Zweifel anmeldet. Derweil interessieren mich die Reaktionen der Menschen nicht und ich nehme sie kaum war. Die Auseinandersetzung findet „innen“ statt. Ich und „er“.

Zwei Stunden bewege ich mich durch die Kölner Fußgängerzone. Was passiert?

„Er“ fühlt. Von angestrengt sein über Traurigkeit bis hin zu Freude. Er sieht andere in „Maske“, die Luftballons zu Blumen oder Figuren formen oder mit einer Gruppe Kindern singen. Sie haben nichts mit ihm zu tun. Er nimmt viele Menschen war, die da sitzen und Becher oder Hüte hinhalten. Scheue Menschen. Wenn sie ihn sehen schauen sie weg. Sie sind traurig. 

Die ganze Zeit hat er den versteinerten Gesichtsausdruck vom letzten Mal. Er (oder ich?) versucht an den scheuen, ängstlichen Charakter anzuschließen. Ohne Erfolg. Er „kommt“ nicht, weil ich versuche, ihm zu sagen, wer er ist.

Wenn er da ist, nimmt er Köln war. Faszinierend. Unerklärlich. Viel zu viel. Zu viele Menschen, zu viele Lichter, zu viele Dinge, zu viele Lärm, zu viele Gerüche. Unentschlossen und unangenehm berührt geht er in eines der Kaufhäuser. Vorbei an einem prüfend schauenden Sicherheitsmann an der Tür. Totale Reizüberflutung. Keine Ahnung, wofür man all die Dinge braucht. Keine Ahnung, was all die Menschen tun. Sie sind alle wahnsinnig schnell. Sie schauen ziemlich ausdruckslos. Freudlos. Sie reden, telefonieren, räumen Sachen auf, schauen sich gegenseitig an, nicken oder schütteln den Kopf und verschwinden dann hinter Vorhängen, um kurz darauf anders gekleidet wieder hinter den Vorhängen hervor zu kommen.

Er ist froh, als er wieder draußen ist. Er verliert die Scheu. Langsam. Und er wird schneller. Langsam.  Dennoch: Köln ist unbehaglich! Immer wieder innere Dialoge. Er, ich und der Kritiker. Und doch gibt es immer wieder Momente, in denen er all die Eindrücke einfach nur wahrnimmt. Schaut, hört, spürt, riecht.

Sprache funktioniert nicht. Sprache ist meine Sprache. Nicht sein. Er bestellt einen Tee in einem kleinen Doughnut Laden. Steht am Fenster, schaut nach draußen und trinkt Tee. Immer wieder nimmt er Kontakt zu den vorbeigehenden Passanten auf. Dabei sieht er gleichzeitig sein Spiegelbild in der Scheibe. Versteinert. Er entspannt sein Gesicht. Entdeckt Zuzwinkern und ein leichtes Lächeln. Ansonsten gefällt er sich mit hochgezogener Augenbraue und leicht angewidert verzogenem Mund. Oder gefällt er mir?

Ein Junge im Doughnut Laden will ein Foto mit ihm. Er stellt sich neben ihn, hält die Kamera auf beide und blitzt. Danach zeigt er ihm das Foto. „Cooles Bild“. Aha. Er kann nichts damit anfangen. Er nickt.

Danach geht er flott, leichtfüßig, manchmal getrieben zurück zum Dom. Dort wird er wieder langsam. Setzt sich auf die obere Stufe und schaut in Richtung Hauptbahnhof. Links und Rechts fließen die Menschen vorbei. Manche bemerken ihn, manche nicht. Er beobachtet sie. 

Jetzt eine Einsicht: (Seine? Meine? Ich weiß es nicht genau) All diese Menschen haben eine Geschichte. All diese Menschen haben ein Ziel. Haben Aufgaben. Denken über irgend etwas nach. Sind beschäftigt. Oder etwas beschäftigt sie. Sogar den jungen Mann in Kapuzenshirt mit Nasenring, der reglos neben ihm sitzt und nach vorne starrt. Nur „er“ sitzt da und hat all das nicht. Keine Vergangenheit. Keine Zukunft. Keine Zwänge. Kein Ziel. Er darf schauen. Er darf einfach nur hier sitzen. Es gibt keinen Menschen, der auf ihn wartet. Niemand kennt ihn, er kennt niemanden. Freudige, traurige Freiheit – für ihn. Befristete Befreitheit – für mich. Temporäre Existenz als Gestalt gegen den Hinterrund eines Lebens mit Geschichte, Beziehungen, Zielen, Zweck: mein Leben.

Es wird Zeit, wieder von ihm zum ich zu werden. Ich weiß auch, dass es dies mal auf der Bahnhofstoilette passiert. Es ist dunkel und die Rückverwandlung in der Öffentlichkeit macht wenig Sinn. Im Dunkeln könnte sie missverstanden werden. Konfrontation ist nicht das Ziel. Im Bahnhof ist er noch mal komplett da. Steht. Schaut. Jetzt nimmt er die Reaktionen der Leute war. Reagiert. Lächelt; manchmal.

Dann einen Euro in das Mc Clean Drehkreuz und in die einzige freie Kabine. Unter den misstrauischen Blicken des Putzmannes...

Fürs nächste Mal? 
Das innere Erleben mehr nach außen bringen. 
Bei Null anfangen – ihn entstehen lassen. 
Mit meiner Außenwahrnehmung dabei bleiben – wie es am Ende auf dem Domplatz und im Hauptbahnhof noch einmal passiert ist: das Gesamtbild mit ihm drin sehen und dennoch komplett „er“ sein und jeden Moment neu erleben.