Traurig, scheu und stumm...
Ich sitze in einem Café am Isartor in München und lasse die letzten zwei Stunden nachwirken. Ich lasse kommen was kommt...
Die Verwandlung. Auf der Stufe am Denkmal am Platz vor der Staatsoper. Den Aufbruch. Nach einer Weile still Sitzen. Den langsamen Weg durch die Innenstadt. Marienplatz, Rindermarkt, Viktualienmarkt, Isartor. Es kostet mich Konzentration, die Straßennamen zu finden, jetzt beim Schreiben. Er kennt sie nicht. Er nimmt nur wahr. Eine Weile unterm Bogen im Isartor stehen. Dann, es ist dunkel, schnell abschminken und umziehen. Auf einer Parkbank. Es ist eiskalt.
Was kommt, wenn ich jetzt nachspüre?
Die Verwandlung. Sie ist erst abgeschlossen, wenn er sich im Spiegel sieht. In einem Schaufenster, normalerweise (interessant, nach drei Mal schon von "normal" zu sprechen). Zufällig habe ich vor ein paar Tagen das Buch von Keith Johnstone aus dem Regal genommen (das dort seit Jahren unangerührt steht) und irgendwo aufgeschlagen. Es war ausgerechnet das Kapitel über Maskenarbeit und ich musste an den Workshop vor zwei Jahren denken, an dem uns Keith Johnstone ein Video über Maskenarbeit mit Steve Jarand gezeigt hat. Die Leute bekommen eine Maske aufgesetzt und schauen sich dann im Spiegel an. In dem Moment verfallen sie in eine Art Trance. Sie machen Geräusche und sind eine andere Person. Eine, die bei Null anfängt. Reden lerne muss; wachsen muss.
Ein bisschen in dieser Art kommt er mir auch vor. Heute -im Gegensatz zum letzten mal- habe ich nichts gemacht. Er hat alles gemacht. Er ist gegangen. Der Gang manifestiert sich. Langsam, schlurfend, kleine Schritte. Er hat einen Körper. Angespannt, Schultern hochgezogen, ungelenkig, starrer Hals. Bei jedem Blick dreht er seinen Oberkörper in die entsprechende Richtung. Er hat einen Gesichtsausdruck. Ernst, leicht angewidert. Und er hat eigene "Emotionen". Oder besser: innere Zustände, die nicht neutral sind. Etwas, dass sich heute gegen Ende zu Traurigkeit verdichtet hat: Er stand am Isartor, alleine, den Koffer neben sich und war einfach nur da. Sonst niemand. Einsam. Die Menschen haben nichts mit ihm zu tun. Keinerlei Bedürfnis, mit irgendwem Kontakt aufzunehmen.
Die Menschen, die ihn sehen, scheinen sein leicht angewidertes Desinteresse zu spüren. Ich würde sagen, sie sind verunsichert. Manche machen Kommentare. Drei Mädels fanden ihn heute "süß" und haben versucht mit ihm in den Kontakt zu kommen. Er ist schnell weiter. "genervt" oder "verunsichert" wären zu klare Gefühle. Es ist eine Art unklares Unwohlsein, das ihn weiter treibt, in einer solchen Situationen. Keinerlei Empathie. Er kann einfach nichts mit anderen anfangen. Nur zwei Menschen "dringen zu ihm durch": eine alte Frau, gebückt, die sich Schritt für Schritt vorwärts kämpft. Nach jedem Schritt muss sie ihre Große Tasche abstellen und schleift sie dann ein Stück neben sich her. Kurz begegnen sich ihre Blicke.
Und ein Mann; er überquert mit einer dieser klassischen, kartierten Einkaufstaschen auf Rollen auf dem Radweg bei Rot die achtspurige Kreuzung am Isartor. So langsam, dass er dafür zwei Ampelphasen braucht und immer wieder mitten auf der Straße steht, wenn die Massen an Feierabendverkehr sich in Bewegung setzen. Direkt neben ihm, hupend, drohend, aggressiv. Er geht unbeirrt weiter. Wäre ich in diesem Moment ich gewesen, hätte der Mann mich fasziniert. So hat „er“ es beobachtet. Und hat die Frau und den Mann wahrgenommen als – ich suchen nach dem richtigen Wort: Mitmenschen? Gleichwertige? Ich weißes nicht genau... Oder eben einfach nur: wahrgenommen. Die beiden waren aus seiner Welt. Nicht wie all die lauten, schnellen anderen Menschen um ihn herum, mit denen er nichts anfangen kann.
Ansonsten sind es Momente, Eindrücke, Geräusche, Gerüche, ... Sie ziehen seine Aufmerksamkeit an. Verloren hängt er ihnen nach, bis etwas Neues seine Aufmerksamkeit holt. Gebäude, Stimmen, Laub, das aufgewirbelt wird, ein Blick zum Himmel zwischen zwei hohen Häusern, Schaufenster, Menschen hinter Scheiben, ...
Interessant ist im Nachhinein: Es scheint kein „positiv“ oder „negativ“ zu geben. Kalte Finger sind einfach nur das: kalte Finger. Die Wärme, wenn die Hand in der Hosentasche steckt ist zwar angenehm, aber eben auch nur das: Eine Wahrnehmung. Eine Veränderung. Auch die beißende Kälte ist einfach nur eine Wahrnehmung. Erst als ich mich abschminke und mir bei Minusgraden (und eh schon durchgefroren) kaltes Wasser ins Gesicht schütte, spüre ich Kälte als Schmerz und mit Widerwillen; ärgere mich, dass mir so kalt ist und ich den „Mist“ mache; mache mir Sorgen, dass ich mir vielleicht eine Erkältung geholt habe. Da ist er aber schon weg.
Mir wird klar, dass er Zeit brauchen wird. Ich hatte darüber nachgedacht, heute eine kleine Aufgabe zu stellen. Etwa: eine Sache kaufen. Oder: sprechen. Aber jeder „Zwang“ den ich ausübe bringt mich raus aus der Figur und in meine Unsicherheit und meine Kontrolle. Meine Vermutung im Augenblick: immer wieder in die Figur gehen und ihn entscheiden lassen. Darauf vertrauen, dass er schon neugierig wird (oder eben auch nicht). Darauf vertrauen, dass sich ihm die passende Herausforderung im richtigen Moment stellen wird.
Ich sitze und schaue durch die Schaufensterscheibe auf die Straße. Es ist dunkel. Ich muss an das letzte Mal denken. „Aber dann versteckst du dich doch hinter einer Maske, oder?“ hat meine Schwester gefragt, als ich ihr erzählt habe, was ich mache. Ich konnte ihr keine Antwort geben. Da war nur das Gefühl „eben gerade nicht!“.
Ich glaube, dass sie Recht hat und nicht Recht hat. Durch die Maske und das Kostüm bin ich weg. Ich verstecke mich nicht nur, ich trete – wenn ich es schaffe – komplett zurück und überlasse „ihm“ meine Zeit und meinen Körper. Insofern „verstecke“ ich mich hinter der Maske, weil ich mich während dieser Zeit nicht mit mir selbst befassen muss. „Ich“ habe frei (abgesehen natürlich von dem Wissen, dass im Notfall „ich“ übernehme).
Und dann verstecke ich mich gar nicht. Denn irgendetwas hat „er“ ja mit mir zu tun. Mehr vielleicht als mir bewusst ist. Es ist ja immerhin mein Körper. Und komplett kann ich meine Erfahrung auch nicht ausschalten, sonst würde ich ja bewegungslos wie ein Säugling da liegen und müsste alles neu lernen. Selbst wenn „ich“ komplett zurück trete kann er vieles, was ich kann. Auf eine Art kommt es mir vor, wie eine „Parallelwelt“ in der ich unterwegs bin. Oder besser ein „Parallel-Ich“, dass in meiner Welt unterwegs ist. So oder so ist die Maske und das Kostüm der schnellste Weg heraus aus Wissen und Konvention. Zumindest für eine kurze Zeit. Also: genau das Gegenteil von Verstecken.
Und dann gibt es da noch eine dritte „Instanz“: Immer wieder scanne ich „hinter“ ihm, welche Orte und Situationen wohl von außen eine gewisse Ästhetik oder „visuelle Poesie“ hätten, wenn er darin wäre. Eine Art „Inszenierung“, sowohl für ihn (um die Situation oder den Ort zu erleben) als auch für die anderen, wenn sie es denn überhaupt wahrnehmen. Das allerdings interessiert weder ihn noch mich. Mir geht es in diesen, seltenen Momenten eher darum, eine eigene, kleine „Wirklichkeiten“ außerhalb der Konventionen zu schaffen.