Samstag, 2. November 2013

Gefühlszustand

Augsburg, 2. November 2013, 14:00 in einem vollen Café:

Es war wie immer. Und dann auch wieder gar nicht. 

Sachen zusammensammeln; in den Koffer damit; zum Hauptbahnhof (diesmal nicht München, zu viel was "ich" damit verbinde). 

Zug nach Augsburg; Rosenheim wäre eine Alternative gewesen, aber mein Bauch sagt Augsburg.

Im Zug ein paar Fragen wie "warum mache ich das?" oder "ist der Abstand zu lang zwischen den einzelnen Verwandlungen?". Die Fragen sind schnell beantwortet. Ich mache es, weil der Impuls da ist (diesmal war gestern schon klar, dass ich heute laufen werde) und ich mache es so selten, weil es keinen Grund gibt es zu tun, wenn der Impuls nicht da ist. Kurz frage ich mich, ob die Antworten nicht zu einfach sind; ob ich nicht eine regelmäßige Praxis daraus machen sollte. Immerhin hätte "er" dann die Möglichkeit sich schneller zu entwickeln. Ich verwerfe die Idee. Zum einen ginge es dann mehr um meine Disziplin als um seine Existenz und zum anderen hätte ich Sorge, dass "er" dann unter meiner Unlust leiden müsste. Ich beschließe, genau deswegen ein mal zu Laufen, wenn gar kein Impuls da ist; aber eben nicht heute, denn heute ist er ja da, der Impuls. 

Der Zug kommt in Augsburg an. Ich steige aus und lasse mich treiben. Es ist wenig Aufregung da. Genau genommen: gar kein.

Ich laufe auf den Prinzregentenplatz zu und sehe Bänke (es ist nass, muss vor kurzem geregnet haben). Ich suche mir die trockenste aus. Bewusster und langsame als alle Male zuvor schminke ich mich, ziehe mich um, verstaue meine Sachen im Koffer. Es ist unspektakulär.

Ich laufe los. In einer Glastüre sehe ich mich, oder besser: ihn. Er ist da. Wie üblich: extrem kleine und langsame Schritte, leicht gebückte Haltung, schleppender Gang, angespannte Schultern.

Ein Unterschied: Ich spüre ihn genauer und kann ihm mehr Raum geben als bisher. "Ich" bin komplett entspannt. Er hat nur körperliche Wahrnehmungen und Impuls. So klar war die Trennung zwischen ihm und mir noch nie. 

Vielleicht liegt es an den 5 Tagen Action Theater Training bei Sten Rudstrom vor nicht mal einer Woche. 5 Tage embodyment. 5 Tage im Körper sein. 5 Tage nicht "labeln" sondern erfahren und erleben.

Es mag diese Klarheit sein, die es ihm ermöglicht, das erste mal so etwas wie ein eigenes "Gefühl" zu entwickeln. Ich erinnere mich, dass bisher die identifizierbaren "eigenen" Gefühle meistens von mir aus gingen: die Sorge, dass ihn jemand anspricht; die Hektik, wenn ein Platz für die Rückverwandlung her muss, usw.

Und die Einsamkeit und Leere, die sonst und auch diesmal da ist? Sie ist eine Grundstimmung aber kein Gefühl. Das merke ich, weil diesmal etwas anders ist. Es ist eindeutig mehr als nur Körperwahrnehmung und Körperimpulse. Und es ist mehr als eine Grundstimmung.

Wieder ist es Action Theater und eine Unterscheidung, die in den 5 Tagen Workshop immer wieder hilfreich war: Die  zwischen "Feeling State" und "Emotion". Feeling State: ein Gefühl, oder besser eine Gefühlsveränderung spüren ohne sie zu benennen. 

Sein Gefühlszustand hat ihren Ursprung im Gesicht. Es spannt sich über die Zeit immer mehr an. Zuerst ist es mir nicht bewusst. Dann werde ich aufmerksam, weil einige Muskeln im Gesicht schmerzen. Er spürt diesen Schmerz nicht. Er ist im Gesicht; erlebt Mimik. Ich will mich entspannen, merke aber schnell, dass es nicht "meine" Anspannung ist. Er ist angespannt. Ich lasse ihn und beobachte. Über geraume Zeit entwickelt sich so etwas wie ein unterscheidbares Gefühl. Müsste ich es benennen, würde ich es am ehesten Wut nennen. 

Ich beobachte weiter und lasse ihn machen. Und das erste Mal seitdem er existiert kommt ein Ton aus seiner Kehle. Nicht weil ich oder die Situation ihn dazu zwingen. Einfach nur als Ausdruck dieses "Gefühlszustandes". Ein stimmhalftes Schnauben, eine art Grollen. 

Er sieht sich wieder in einem Fenster. Ich erschrecke. Die sonst so "feinen" Züge sind weg. Eine art fleischige Maske in Weiß schaut mich und ihn an. Irgend etwas hat sich verändert. 

Er sieht eine niedrige Steinmauer und setzt sich. Langsam lässt die Anspannung nach, das "Gefühl" verflüchtigt sich. Er sitzt da, müde, ohne Impuls. Wieder "der alte".

Nach einer ganzen Weile geht er weiter. In einer engen Gasse schaut eine alte Frau aus dem Fenster im dritten Stock. Er sieht sie und bleibt stehen; schaut sie an. Sie schaut eine Weile, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern; er genau so. Sie nickt fast unmerklich. Er verbeugt sich leicht, fasst sich an den Hut und geht weiter. 

In einem kleinen Park hinter einer alten Backsteinmauer. Eine Bank, die fast trocken ist. Er stellt seinen Koffer ab, setzt sich; schaut in den Himmel. Ich lasse ihn obwohl sich bei mir der Plan formt, sich zurückzuverwandeln. der ideale Platz. Er bekommt es mit und das erste mal in seiner Existenz spüre ich Widerstand. Er will sitzen und schauen. Den Wind spüren. Dem Laub zuhören. Sein. 

Ich übernehme. Ziehe mich um; schminke mich ab; und bin wieder ich. Ich lasse ihn nachklingen. So unspektakulär es war, so fein und neu war es auch. Er war klarer da; deutlicher und abgegrenzter. 

Jetzt beim Schreiben habe ich den Gedanken, dass meine Fragen, meine Unsicherheit und mein "den anderen zugewandt sein" ihm diesmal weniger als bisher im Weg standen. Mehr Klarheit bei mir, mehr Raum für ihn, mehr er.

Wieder sitze ich da und bin gespannt, wann und wie es weitergeht. Ich zahle, gehe zum Bahnhof und fahre nach München zurück.