Freitag, 23. Januar 2015

Abschied

Rosenheim, 22. Januar 2015

Manchmal fängt man Dinge an, ohne genau zu wissen, warum. Genau genommen fängt man sie nicht an, sondern sie fangen an. Und ohne es zu merken lädt man damit etwas in sein Leben ein, dass einen eine Weile begleitet, interessiert und verändert; etwas das eine Art Eigenleben entwickelt; etwas für das man unmerklich die Verantwortung übernimmt und das erst später merkt. Und genau so, wie solche Dinge auftauchen beschließen sie auch, wieder zu gehen.

So ist es mir im Oktober 2011 gegangen. Ich hatte eine Woche freigehalten, weil ich auf ein Meditationsseminar wollte. Wegen zu weniger Anmeldungen ist es abgesagt worden und ich stand da mit einer Woche, in der ich nichts zu tun hatte. Etwas orientierungslos ging ich in die Stadt und beschloss mich leiten zu lassen von dem was mir begegnen würde. Es war der schwere Frack eines Mannes aus Flensburg, den ich in einem Second-Hand Laden fand. Oder besser: er mich. Irgendwie fing er meinen Blick. Woher ich weiß, dass er aus Flensburg war? Der grüne Abhol-Zettel einer Flensburger Reinigung ist bis heute in der Innentasche. Ich zog ihn an, er passte perfekt und es war klar: daraus wird etwas für diese Woche. Und ohne großen Aufwand fand alles zusammen: Ein alter Pappkoffer, den ich von meinem damaligen Schwager geschenkt bekommen hatte; aus dem Fundus zurückgelassener Dinge einer Obdachloseneinrichtung die er leitete. Ein Paar zu große Lederschuhe, die ich mir in der Not in Leipzig gekauft hatte, weil mir bei einem Auftrag meine Straßenschuhe kaputt gegangen waren. Eine viel zu große, schwarze Anzughose, die ich mit 20 in Berlin gebraucht gekauft hatte und die meine damalige Freundin immer abfällig als Clowns-Hose bezeichnet hatte (sie wusste damals noch gar nicht, wie recht sie haben würde - und ich auch nicht). Und weil mein Interesse an Performances im öffentlichen Raum aufgetaucht war beschloss ich, aus all diesen Dingen eine Art "Performance-Experiment" zu machen. Die äußeren Bedingungen für "Ihn" waren entstanden, ohne, dass ich mich dafür hätte anstrengen müssen.

Heute - nach 10 Monaten Pause - habe ich ein weiteres und letztes mal getan, was ich in den letzten dreieinhalb Jahren immer wieder getan habe: Ich habe die Kleidung und Schminke in den alten Papp-Koffer gepackt und bin in eine andere Stadt gefahren. Diesmal: Rosenheim, wo ich im Anschluss noch einen Freund treffen werde. Seit ein paar Tagen war klar, dass es wieder an der Zeit war für „ihn“ und der Vormittag in Rosenheim schien ideal.

Womit ich nicht gerechnet hatte war, dass er sich heute verabschieden würde. Obwohl ich mich schon seit Tagen gefragt habe: warum tue ich das. Nicht das die Frage neu gewesen wäre. Ich habe sie mir praktisch jedes Mal gestellt. Aber bisher hatte ich immer eine klare Antwort: Ich tue es. Und es war natürlich immer spannend und immer ein Erlebnis. Heute war es nicht mehr „spannend“ im eigentlichen Sinne, Heute war es eher „klar“.

Das Umziehen in der Öffentlichkeit war mit keinerlei Nervosität verbunden. Auch das loslaufen: keine große innere Verwandlung wie sonst. Eher ein ruhiger Übergang von mir zu ihm. Ohne Schwierigkeiten oder Widerstände.

Und dann der Weg: an keiner Stelle irgend eine Frage von mir oder von Ihm. Keine Hindernisse. Auch als er angesprochen wird, wo er denn hin wolle, zeigt er nur selbstverständlich in die Richtung in der er geht.

Derselbe Gang - nur eben leichter. Dieselbe Haltung, nur eben weniger schwer. Und sehr schnell ein klares Gefühl von große Trauer. Nach einer Weile ist klar, dass die Trauer etwas mit Abschied zu tun hatte. „Er“ war nicht - wie ich bei den ersten "Verwandlungen" dachte - neu hier. Ganz im Gegenteil. Heute waren klare Gefühle da von Heimatlosigkeit, von hier nicht Hingehören und Erleichterung darüber, diese schräge und monströse Welt verlassen zu dürfen. Bis fast zum Schluss mit der gleichen Neugierde und dem gleichen kindlichen Staunen wie alle Male davor: ein Lastwagen, der einen schweren Stahlcontainer quietschend auf einen Anhänger hievt. Beeindruckend und beängstigen. Das Danone Werk in seiner vollkommen un-irdischen Präsenz mit all den riesigen, glänzenden Stahltanks. Unfassbar. Kleine, leere, enge Straßen mit alten Häusern, die noch am ehesten angenehme Erinnerungen von Bekanntem wecken.

Was ihn immer wieder und am meisten fasziniert: der Schornstein der Müllverbrennungsanlage. Grauer, weiter, grenzenloser Himmel. Mittendrin ein roter Schornstein. Eine nicht abreißende graue, tanzende, gewaltige Wolke, die daraus entsteht und in der Unendlichkeit des grauen Himmels verschwindet.

Lebendigkeit und Ruhe. Weite und Sehnsucht. Und: Tränen. Es war klar dass sie kommen würden. Kurz, schon früher, fordere ich mich auf nicht auszuagieren, nichts zu erzwingen. Das muss ich auch nicht. „Er“ weint. Die Tränen kommen von alleine. Und da wird mir klar: er ist dabei, sich zu verabschieden. Ich oder er - ich kann es nicht mehr genau sagen - wird sich seiner, und gleichzeitig meiner Körperlichkeit bewusst. Tatsächlich frage ich mich, wie er denn "gehen" will? Ich bleibe ja schließlich. Und sogar die Frage kommt: was passiert denn mit dem Frack der gehört doch ihm? Ich beschließe, diese Fragen loszulassen.

Er geht weiter an einem Bach entlang. Vor ihm eine Grünanlage, die immer weiter wird. Eine tiefe Sehnsucht entsteht, genau dort hinzugehen; in diese Weite. Ein letzter Blick zurück auf die Schornsteine, aus denen graue Wolken in den grauen Himmel fließen.

Der Bach mündet in den Inn. Seine Sehnsucht ist, einfach am Fluss weiterzugehen. Immer geradeaus; und so zu verschwinden. Aus einer Welt, die nicht, oder besser: schon lange nicht mehr seine ist; die er nicht versteht; die ihn in ihrer Monströsität gleichzeitig fasziniert und befremdet; in der er keine Heimat hat; in der er Besucher ist; in die er nicht gehört. Er will einfach nur gehen. Es fällt mir schwer, keine Ideen dazu zu entwickeln. Etwa, dass dort eine andere Welt liegt. Eine, in die man nur ohne Körper reisen kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob diese Ideen und Bilder von mir kommen oder von ihm. Ich schaffe es, meine Gedanken loszulassen und im Beobachten zu bleiben.

Genau an der Mündung vom Bach führt eine Art "Halbe Brücke" über den Fluss. Eine Aussichtsplattform mit Blick Fluss abwärts; links und rechts Flussauen, Wälder, Weite. Er steht auf der Plattform und schaut. In den grauen, weiten, zeitlosen Tag. Erleichterung macht sich breit. Und innerhalb von Sekunden löst er sich. Ich weiß nicht, ob er sich auflöst, aber er löst sich. Plötzlich bin ich komplett entspannt. Mein Körper in seinen Klamotten. Er ist weg. Mir ist extrem kalt.

Ich stehe noch kurz da und gehe dann flott zu einer Bank auf der Halbinsel des Zusammenflusses zwischen Mangfall und Inn. Während ich mich abschminke wird mir bewusst, dass er gerade gegangen ist. Den Fluss entlang.

Als ich fertig bin mit Umziehen (es ist keine Rückverwandlung, ich muss nur seine Klamotten ausziehen) werde ich sehr traurig. Traurig und dankbar. Tatsächlich fühlt es sich an, als wäre gerade ein alter Freund gestorben. Einer, den ich gut gehen lassen kann. Einer, mit dem mich eine sehr eigene Beziehung verbunden hat. Einer, der mich teilhaben hat lassen an seiner Sicht auf die Welt. Trauer, Freude, Dankbarkeit. Ich muss weinen.

Und so wird dieser Eintrag zu einer Art Nachruf auf jemanden, zu dem ich ungewollt eine sehr enge Beziehung hatte und den es eigentlich gar nicht gab.

Auf dem Weg zu Andi frage ich mich, was bleibt.
Viel. Die Eindrücke der Welt aus seiner sehr eigenen Perspektive. Ein Frack, der jetzt wieder nur noch ein Frack ist. Die Praxis des „sich Verwandelns“, die ich sicher weiterführen werde, alleine oder mit anderen, nur eben nicht mehr mit „ihm“. Und das Gefühl, dass Dinge zu ende gehen dürfen.
Später werde ich Andi treffen. Straßentheater-Macher, Clown und Performer. Ich werde ihm von diesem Erlebnis erzählen. Und er wird mich lächelnd ansehen und Fragen: „Wer sagt, dass er nicht wieder kommt?“

Ich muss lächeln.

Samstag, 8. März 2014

Vom Selbstexperiment zur Performance-Praxis

München, 8. März 2014

Es ist zu einer Art Praxis geworden. Zumindest hat es sich heute so angefühlt.

Ein relativ spontaner Entschluss. Schönes Wetter, freier Samstag; Figur.
Ich glaube alles zusammen, packe den Koffer und gehe los. Wie immer verändert schon das Wissen um die Verwandlung die Wahrnehmung. Ich steige in die U-Bahn und es wird klar: Haltestelle Uni. Ich setze mich noch auf einen Tee in ein Straßenkaffe und lasse mich dann treiben auf der "Suche" nach einem guten Platz. Keinerlei Nervosität. Vor der Kunstakademie an einem Ende einer Steinmauer findet sich der Ort für die Verwandlung. Ein paar Studentinnen und Studenten sitzen auf den Stufen und auf der Auffahrt in der Sonne. Keiner scheint mich zu registrieren.

Die Verwandlung - bewusster denn je. Wie gesagt: keine Unsicherheit, keine Angst; unspektakulär. Auch das "Reinkommen" in die Figur nicht mit Schwierigkeiten verbunden. Kurz ist ein Teil von mir da, der sagt: "nicht schon wieder, das ist doch langweilig, das kennst Du doch schon". Dem muss ich mich kurz zuwenden, dann tritt er zurück. Ich gehe. Der leicht angewiderte Misanthrop ist wieder da. Er weicht Menschen aus (Schwabing ist selbst in den Nebenstraßen an einem sonnigen Samstag erstaunlich belebt), seine Aufmerksamkeit wandert dorthin, wo etwas oder jemand sein Interesse weckt, bis etwas neues in den Fokus kommt.

Eigentlich will ich nach einer Weile aufhören. Ich komme an den Park hinter der LMU Mensa, den ich schon vorher zum Zurückverwandeln als sichere Möglichkeit im Blick hatte. Aber es ist zu kurz. Es ist noch nichts neues passiert. Mein "gelangweilter" Teil kommt wieder und fragt, was denn schon passieren soll. Das alleine ist Grund genug weiter zu gehen.

Und ab jetzt wird es spannend, denn die Gehsteige werden immer voller. Ich versuche die Leopoldstraße zu vermeiden, was sich aber nicht durchhalten lässt. Stress und Druck entstehen. Er geht sehr schnell für seine Verhältnisse. Und aus dem Stress, der Scheu, der Unmöglichkeit auszuweichen, den vielen Eindrücken und der Fassungslosigkeit, die sich breit macht über all diese komischen Wesen um ihn herum entwickelt sich Energie. Plötzlich bewegt er sich. Aus der Mitte heraus entstehen angespannte Bewegungen. Die Finger der Hand, die den Koffer nicht hält bekommen ein Eigenleben. Der Arm bewegt sich. Der Schritt ändert sich und Spannung wandert durch den Körper. Mal zwischen den Schulterblättern, dann im Rücken, in der Hüfte, in den Beinen. Er "äußert" sich durch entsprechende Bewegungen. Von Außen muss es aussehen wie ein  tanzender Säugling in Frack mit Koffer. Für ihn sind es vollkommen bedeutungslose Bewegungen. Nur Körper. Keine Gefühle, keine Gedanken; nur Impulse.

Ebenso das Gesicht. Auch hier wandern Spannungsimpulse durch die Muskulatur. "Dem ist spei-übel" höre ich einen Sagen und tatsächlich entspricht der innere Zustand am ehesten dem was man mit dem Gefühl "Abscheu" beschreiben könnte. Jetzt ist mein Fokus eine Weile auf seinem Gesicht und ich schaue sein Spiegelbild immer wieder in Fenstern an. Sein Gesicht ist maskenhafter als je zuvor und es ändert sich ständig. Am liebsten würde ich eine Weile nur seine Mimik beobachten. Aber das würde ihn ablenken. Also halte ich mich zurück. Er bekommt das nicht mit. Er ist weiterhin damit beschäftigt, den Menschen auszuweichen und hört nur auf einen Impuls: raus aus der gefährlichen Situation.

Ich weiß, dass der Englische Garten die nächste Möglichkeit ist, sich abzuschminken und umzuziehen. Dazu muss ich aber über die Leopoldstraße. Ein aberwitziges Unterfangen. Und klar funktioniert es nicht. Eine Ampel ja, die zweite nach der Verkehrsinsel ist rot. Egal, er geht weiter, getrieben von der Idee, aus dieser überfüllten Situation endlich rauszukommen. Zwei Autos hupen. Panik bei ihm. Reaktion? Er schaut nach unten und geht weiter. Ich lasse ihn, weil ich mitbekomme, das alle warten. Die Autos hupen weiter.

Kurz vor dem Englischen Garten eine Kirche mit einem leeren Park und Bänken. Kein Ort, den die vorbeiziehenden Menschen (wahrscheinlich alle auf den Weg in den Englischen Garten, um die Sonne zu genießen) beachten. Er geht hinein, setzt sich auf eine Bank und schließt die Augen. Der Stress lässt nach, eine Träne läuft ihm über die Wange. So sitzt er mit geschlossenen Augen, hört die Vögel zwitschern, die Menschen auf der Straße murmeln und lässt sich den Wind übers Gesicht streichen. Nach einer weile macht er die Augen auf und ist weg. Selten hat der Wechsel so schnell und klar stattgefunden. Ich weiß nicht wer mit geschlossenen Augen aufmerksam zugehört hat, denn da waren keine Gedanken, Bilder, Emotionen oder sonst etwas, was ich ihm oder mir zuordnen könnte. Aber beim Öffnen war er weg und ich da.

Ich ziehe mich langsam um, schminke mich ab und stelle fest, dass er über eineinhalb Stunden unterwegs war. Und ich stelle fest das es unspektakulär war; insofern, als ich kein einziges Mal übernehmen oder eingreifen musste; und insofern, als die "Verwandlung" in beide Richtungen schnell und ohne große Ablenkung passiert ist.

Auf der Suche nach einem Café, in dem ich meine Gedanken aufschreiben kann bemerke ich zwei Dinge: zum einen ist es immer mehr die Praxis und die Übung, die den Reiz ausmacht und nicht mehr so sehr die Spannung, die durch das Überschreiten von Konventionen entsteht oder die Frage, wo es mit ihm hingeht (das passiert eh). Zum anderen kommt mal wieder die Frage, warum ich das tue und sehr schnell ist eine Antwort da, die immer wieder kommt; ein Zitat, das -wie so viele- sowohl Gandhi als auch Nelson Mandela zugeschrieben wird: "Be the change that you want to see in the world". Ich möchte gerne mehr davon sehen!

Samstag, 2. November 2013

Gefühlszustand

Augsburg, 2. November 2013, 14:00 in einem vollen Café:

Es war wie immer. Und dann auch wieder gar nicht. 

Sachen zusammensammeln; in den Koffer damit; zum Hauptbahnhof (diesmal nicht München, zu viel was "ich" damit verbinde). 

Zug nach Augsburg; Rosenheim wäre eine Alternative gewesen, aber mein Bauch sagt Augsburg.

Im Zug ein paar Fragen wie "warum mache ich das?" oder "ist der Abstand zu lang zwischen den einzelnen Verwandlungen?". Die Fragen sind schnell beantwortet. Ich mache es, weil der Impuls da ist (diesmal war gestern schon klar, dass ich heute laufen werde) und ich mache es so selten, weil es keinen Grund gibt es zu tun, wenn der Impuls nicht da ist. Kurz frage ich mich, ob die Antworten nicht zu einfach sind; ob ich nicht eine regelmäßige Praxis daraus machen sollte. Immerhin hätte "er" dann die Möglichkeit sich schneller zu entwickeln. Ich verwerfe die Idee. Zum einen ginge es dann mehr um meine Disziplin als um seine Existenz und zum anderen hätte ich Sorge, dass "er" dann unter meiner Unlust leiden müsste. Ich beschließe, genau deswegen ein mal zu Laufen, wenn gar kein Impuls da ist; aber eben nicht heute, denn heute ist er ja da, der Impuls. 

Der Zug kommt in Augsburg an. Ich steige aus und lasse mich treiben. Es ist wenig Aufregung da. Genau genommen: gar kein.

Ich laufe auf den Prinzregentenplatz zu und sehe Bänke (es ist nass, muss vor kurzem geregnet haben). Ich suche mir die trockenste aus. Bewusster und langsame als alle Male zuvor schminke ich mich, ziehe mich um, verstaue meine Sachen im Koffer. Es ist unspektakulär.

Ich laufe los. In einer Glastüre sehe ich mich, oder besser: ihn. Er ist da. Wie üblich: extrem kleine und langsame Schritte, leicht gebückte Haltung, schleppender Gang, angespannte Schultern.

Ein Unterschied: Ich spüre ihn genauer und kann ihm mehr Raum geben als bisher. "Ich" bin komplett entspannt. Er hat nur körperliche Wahrnehmungen und Impuls. So klar war die Trennung zwischen ihm und mir noch nie. 

Vielleicht liegt es an den 5 Tagen Action Theater Training bei Sten Rudstrom vor nicht mal einer Woche. 5 Tage embodyment. 5 Tage im Körper sein. 5 Tage nicht "labeln" sondern erfahren und erleben.

Es mag diese Klarheit sein, die es ihm ermöglicht, das erste mal so etwas wie ein eigenes "Gefühl" zu entwickeln. Ich erinnere mich, dass bisher die identifizierbaren "eigenen" Gefühle meistens von mir aus gingen: die Sorge, dass ihn jemand anspricht; die Hektik, wenn ein Platz für die Rückverwandlung her muss, usw.

Und die Einsamkeit und Leere, die sonst und auch diesmal da ist? Sie ist eine Grundstimmung aber kein Gefühl. Das merke ich, weil diesmal etwas anders ist. Es ist eindeutig mehr als nur Körperwahrnehmung und Körperimpulse. Und es ist mehr als eine Grundstimmung.

Wieder ist es Action Theater und eine Unterscheidung, die in den 5 Tagen Workshop immer wieder hilfreich war: Die  zwischen "Feeling State" und "Emotion". Feeling State: ein Gefühl, oder besser eine Gefühlsveränderung spüren ohne sie zu benennen. 

Sein Gefühlszustand hat ihren Ursprung im Gesicht. Es spannt sich über die Zeit immer mehr an. Zuerst ist es mir nicht bewusst. Dann werde ich aufmerksam, weil einige Muskeln im Gesicht schmerzen. Er spürt diesen Schmerz nicht. Er ist im Gesicht; erlebt Mimik. Ich will mich entspannen, merke aber schnell, dass es nicht "meine" Anspannung ist. Er ist angespannt. Ich lasse ihn und beobachte. Über geraume Zeit entwickelt sich so etwas wie ein unterscheidbares Gefühl. Müsste ich es benennen, würde ich es am ehesten Wut nennen. 

Ich beobachte weiter und lasse ihn machen. Und das erste Mal seitdem er existiert kommt ein Ton aus seiner Kehle. Nicht weil ich oder die Situation ihn dazu zwingen. Einfach nur als Ausdruck dieses "Gefühlszustandes". Ein stimmhalftes Schnauben, eine art Grollen. 

Er sieht sich wieder in einem Fenster. Ich erschrecke. Die sonst so "feinen" Züge sind weg. Eine art fleischige Maske in Weiß schaut mich und ihn an. Irgend etwas hat sich verändert. 

Er sieht eine niedrige Steinmauer und setzt sich. Langsam lässt die Anspannung nach, das "Gefühl" verflüchtigt sich. Er sitzt da, müde, ohne Impuls. Wieder "der alte".

Nach einer ganzen Weile geht er weiter. In einer engen Gasse schaut eine alte Frau aus dem Fenster im dritten Stock. Er sieht sie und bleibt stehen; schaut sie an. Sie schaut eine Weile, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern; er genau so. Sie nickt fast unmerklich. Er verbeugt sich leicht, fasst sich an den Hut und geht weiter. 

In einem kleinen Park hinter einer alten Backsteinmauer. Eine Bank, die fast trocken ist. Er stellt seinen Koffer ab, setzt sich; schaut in den Himmel. Ich lasse ihn obwohl sich bei mir der Plan formt, sich zurückzuverwandeln. der ideale Platz. Er bekommt es mit und das erste mal in seiner Existenz spüre ich Widerstand. Er will sitzen und schauen. Den Wind spüren. Dem Laub zuhören. Sein. 

Ich übernehme. Ziehe mich um; schminke mich ab; und bin wieder ich. Ich lasse ihn nachklingen. So unspektakulär es war, so fein und neu war es auch. Er war klarer da; deutlicher und abgegrenzter. 

Jetzt beim Schreiben habe ich den Gedanken, dass meine Fragen, meine Unsicherheit und mein "den anderen zugewandt sein" ihm diesmal weniger als bisher im Weg standen. Mehr Klarheit bei mir, mehr Raum für ihn, mehr er.

Wieder sitze ich da und bin gespannt, wann und wie es weitergeht. Ich zahle, gehe zum Bahnhof und fahre nach München zurück.

Sonntag, 12. Mai 2013

München, 12. Mai 2013 - Der Hund der Fluss und ich...

Es ist Sonntag Morgen, 8:00 Uhr und ich beschließe sehr spontan, die Figur laufen zu lassen. Nicht, wie sonst aus Lust, sondern, weil ich wissen will wie es ist wenn es aus "Routine" passiert. Ich werfe alle Sachen zusammen (die Brille werde ich vergessen, das finde ich aber erst beim Umziehen heraus und es passt zu den "erschwerten" Bedingungen) und gehe aus dem Haus. Schon seit einiger Zeit stelle ich mir vor, wie es wohl aussieht, wenn die Figur an der Isar "spazieren geht". Also gehe ich Richtung Brudermühlbrücke. In den Isarauen suche ich nach einer Bank auf der ich mich umziehen und schminken kann.


Ich finde sie, etwas abseits und die Verwandlung beginnt. Allerdings sind diesmal einige Sachen anders. Zum einen bin ich nicht in der Zivilisation sondern in der Natur. Das macht die wenigen Begegnungen (Vater mit Kinderwagen, ein Nordic Walker) um einiges "intimer". Die Leute haben Zeit und es gibt keine "gemeinsame" Geschwindigkeit an die alle gebunden sind. Also bleiben sie stehen und schauen unverhohlen zu. Das passiert an belebten Plätzen normalerweise nicht.

Der zweite Unterschied ist, dass ich -bis ich mich zurück verwandeln werde- keinen Spiegel sehen werde und damit einen Teil der Verwandlung gar nicht durchmachen kann. Der Taschenspiegel, den ich zum Schminken verwende ist nicht groß genug, um einen Eindruck von der ganzen Figur zu bekommen.

Außerdem ist die Figur ihre ganze diesmalige Existenz fast keinen Hindernissen ausgesetzt.

Es fällt mir schwer in den Hintergrund zu treten. ständig "brabbelt" mein Gehirn und benennt und bewertet die Dinge, die die Figur sieht. Diesmal ist es eher ein Kampf, mich der Figur zu überlassen.

Als ich nach der Rückverwandlung auf die Uhr schaue ist es nach 10:00. Ich bin überrascht. Und ich stelle fest, das die Phasen, in denen ich es doch "in die Figur" geschafft habe wohl länger waren, als ich dachte.

Der Weg: Ich gehe über die Brudermühlbrücke. Schritt für Schritt, eine Hand am Geländer. Wenn "er" da ist, ist er wie hypnotisiert vom Strom der Autos und deren Lichter, die ihm auf dem dreispurigen mittleren Ring entgegenkommen. Mal wieder teilt ein Geländer seine Wirklichkeit. Rechts der laute Auto-Strom. Links Grün und fast nichts. Einige Autos hupen oder blenden kurz auf. Er bezieht es nicht auf sich.

Und immer wieder komme "ich" dazwischen. Mein innerer Kritiker, der fragt, was das hier eigentlich soll. Gedanken an die vergangene Woche, in der ein paar emotional anstrengende und unschöne Dinge passiert sind. Die Frage, ob die Menschen, mit denen ich Ärger hatte mich albern fänden, wenn sie sehen könnten, was ich gerade tue. Die Frage meines inneren Kritikers, ob ich meine Zeit nicht sinnvoller nutzen könnte (seine Lieblingsfrage:-)

Was für eine Übung. Erschwerte Bedingungen! Wenig innere Vorbereitung, viel innere Ablenkung, wenig äußere Aufgaben.

Ich schaffe es dennoch immer wieder in den Hintergrund zu treten und die Figur sein und führen zu lassen. Ich merke es an der veränderten Wahrnehmung und den Reaktionen der Umwelt.

Natürlich sind Sonntag Morgen an der Isar vor allem Hundebesitzer und Jogger unterwegs. Die Hunde interessieren ihn. Einmal bleibt ein brauner kniehoher Hund genau in seinem Weg stehen. Das Pärchen, dem er gehört bleibt auch stehen und schaut. Die Figur bleibt stehen und schaut dem Hund in die Augen. Der Hund schaut ohne zu Zwinkern zurück. Keine Regung, keine Aggression, keine Angst. So stehen die vier eine Weile da. Das Herrchen fragt irgendwann (ermutigend und wohl in Richtung des Hundes) "Ja und jetzt?". Der Hund schnaubt kurz aus, schüttelt den Kopf und bleibt stehen. So auch die Figur. Nach einer ganzen Weile schaut der Hund ein paar mal zwischen den Besitzern und der Figur hin und her und geht los. An der Figur vorbei. Das Pärchen lacht und geht weiter. Die Figur auch.

Ein anderes mal steht ein kleiner Hund da und schaut einem anderen nach. Die Besitzerin ist schon weiter gegangen. Irgendwann ruft sie mehrmals penetrant laut nach "Joey". Der hört erst nicht, merkt aber, dass seine Besitzerin nicht aufgibt. Er dreht sich unvermittelt in deren Richtung um und rennt los. Auf seiner Kopfhöhe ist allerdings die Unterkante meines Koffers. Er scheint weder mich noch den Koffer wahrgenommen zu haben und rennt ungebremst gegen den Koffer. Ein dumpfer Schlag, ein kurzes Winseln, der Hund rennt zu seiner Besitzerin. Die Figur ist davon vollkommen unberührt. Ich allerdings habe Mitleid mit dem Hund und finde die Situation gleichzeitig sehr komisch. Dann ruft die Besitzerin hinter mir auch noch, wie saublöd das denn sei und wie alt man den werden müsse? Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückhalten und muss kurz lachen. Nach kurzen Sinnieren, ob sie mit dem Schimpfen die Figur oder den Hund gemeint hat, und was diese Situation mit dem Alter zu tun hat, schaffe ich es, wieder in den Hintergrund zu treten und die Figur steuern zu lassen.

Jetzt fällt "ihm" das erste mal die Isar auf. Sie fließt deutlich schneller als er geht. Und für den Rest der Strecke fesselt ihn genau das. Sein Blick ist vom fließenden Wasser gebannt. Er stolpert mehrmals, weil er nicht auf den Weg schaut und wird deutlich schneller. Irgendwann bleibt er stehen geht nah ans Wasser, stellt den Koffer ab und schaut; lässt das Wasser vorbeiziehen. Das einzige Mal, dass eine Gefühlsregung in ihm aufkommt: Traurigkeit und Sehnsucht. So steht er eine Weile da. Irgendwann stellt sich ein Mann genau neben ihn. Schaut auch auf den Fluss. "Er" nimmt ihn nur war, der Mann stört ihn nicht. So stehen sie eine Weile nebeneinander und schauen auf den Fluss. Beide regungslos. Nach einigen Minuten geht der Mann weiter, die Figur bleibt noch eine Weile stehen, nimmt dann den Koffer und geht weiter.

Unter der Wittelsbacherbrücke wird klar das es für heute reicht. Größtenteils war es anstrengend und ich gehe immer noch davon aus, dass es maximal eine Dreiviertel Stunde war. Ich setze mich auf die Steinstufen direkt am Wasser, schaue eine Weile und öffne irgendwann den Koffer um mich abzuschminken und umzuziehen. Jetzt nehme ich die anderen Menschen plötzlich war. Es sind sehr viele für einen Sonntagmorgen. Auch einige Spaziergänger ohne Hunde. Mein "Umziehen" weckt Interesse, einige bleiben stehen und gucken; neben mir und auf der Brücke. Eine Frau geht nah an mir vorbei und lächelt mich an. Wieder wird mir klar, dass die Verwandlung und die Rückverwandlung für Außenstehende wohl ungewöhnlicher sein muss, als die Figur selbst. Die kann man einordnen: weiß geschminkt, schwarz angezogen - aha, ein Künstler.

Aber sich in der Öffentlichkeit umziehen und schminken oder eben abschminken passt in kein Bild und ist schon deutlich gegen die Konventionen.

Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass ich mindestens 90 Minuten unterwegs war. Mehr als alle Male zuvor frage ich mich, was ich hier tue? Ich muss an der Film "Holy Motors" denken. Die Grenzen zwischen den Wirklichkeiten verschwimmen. Was ist die wirklichere Wirklichkeit?

Klar ist, dass es jedesmal eine Erfahrung ist, die ich danach nicht missen möchte. Selbst wenn es mir, wie diesmal, schwer fällt in die Figur zu kommen. Klar ist auch, dass es immer auch eine Übung ist, das "Ich" loszulassen und in eine nichtwertende Wahrnehmung zu kommen.

Jetzt sitze ich im Café, schreibe diese Zeilen und bin einfach nur gespannt, wie es weitergehen wird mit der Figur.

Mittwoch, 30. Januar 2013

Intermezzo 2 – Außerirdisch in München

Tobias hat sich auf einen Besuch angemeldet. 

Tobias ist aus St. Gallen. Ich kenne ihn von einem dreiwöchigen Sommerworkshop mit Ruth Zapora in Santa Fe, NM. Er ist Gründer und Leiter des Playback-Theater. St. Gallen und macht auch sonst viel: Beratung, Therapie, Coaching... Ich freue mich sehr, dass er zu Besuch kommt.

Wir sitzen bei uns in der Küche und ich frage ihn, was er sehen will in München. Schnell stellt sich raus: er würde neben dem „normalen“ Programm gerne irgendwas auf der Straße machen. Wir überlegen. Bild? Sehr aufwändig. Figur? Leichter zu organisieren. 

Nach einem Spaziergang durch die Stadt (Touristenprogramm muss sein) sind wir wieder Zuhause und sammeln ein, was wir brauchen: Schwarze Anzüge. Einen für ihn, einen für mich. Hüte. Er entscheidet sich für den Zylinder. Schminkutensilien. Ohne es beabsichtigt zu haben, habe ich alles in zweifacher Ausführung zu hause.

Schon in den Anzügen – Hüte und Handschuhe in der Hand, Schminkzeug in der Jackentasche – fahren wir mit der U-Bahn zum Odeonsplatz. Wir gehen nach oben. Es stürmt. Der Diana Tempel im Hofgarten bietet annähernd Schutz. 

Vorher hatten wir verschiedene Sachen ausgemacht. Unter anderem würde ich in meiner „normalen“ Präsenz anwesend bleiben, um immer mal wieder einen Blick auf ihn zu werfen (was das heißt erfahre ich erst als es soweit ist).

Schon bei der „Verwandlung“ – in erster Linie Schminken – sprechen wir nicht mehr. Ich bin vor ihm fertig. Auch diesmal brauche ich keinen Blick in den Spiegel, um in die „andere“ Wirklichkeit einzutauchen, die der Figuren. Nicht ganz eintauchen, so wie sonst, wenn ich alleine unterwegs bin. Ich beobachte Tobias – oder besser den, der er jetzt geworden ist – aus dem Augenwinkel und versuch dabei in der Präsenz meiner Figur zu bleiben. Eine neue Erfahrung. Schon jetzt ist es kein „entweder oder“-Gefühl mehr, so wie es mit der anderen Figur ist. Diesmal sind immer beide da. Ich bin präsent, die Figur ist präsent. Und: es ist nicht die Figur in der ich sonst unterwegs bin. Die Klamotten sind weniger „förmlich“, weniger „schwer“.

Was ist der Unterschied zur anderen Figur, der in Frack? Diese Figur ist „agiler“, weniger langsam. Aber auch weniger geerdet und stabil. Ich trete aus dem Tempel heraus und ich muss mit mehreren, stolpernden Schritten ausgleichen, weil der Wind mich fast umwirft. Es zieht mich zum Licht. Ich (oder besser die Figur) würde gerne schnell loslaufen; in Richtung der Menschenmenge auf dem Odeonsplatz.

Geht aber nicht. Den mein normales Ich hat eine Aufgabe: den Kontakt zu Tobias zu halten. Durch meine Figur. Das erste Mal schaue ich mich nach ihm um. Kein Kontakt. Er steht regungslos vor dem Diana Tempel. Schon jetzt wird klar: seine Figur und meine haben sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten. Für die nächste Stunde (so lange werden wir etwa unterwegs sein) habe ich einen permanenten Konflikt zwischen meinem „normalen“ Ich und meiner Figur. Einmal steht er eine gefühlte viertel Stunde (meine Einschätzung – die Figur kennt keine Zeit; sie hat nur den Impuls, weiter zu gehen) vor einer Bronzestatue eines sitzenden Löwen; regungslos. Ich muss warten. Meine Figur will weiter.

Was ich dabei bemerke: Der Übergang ist fließender. Wenn ich alleine unterwegs bin sind die Wechsel zwischen meinem normalen ich und der Figur deutlicher; immer nur einer hat die Führung. Durch die Situation des im Kontakt Bleibens zwischen mir (Tom) und der Figur von Tobias sind „in mir“ beide, ich und meine Figur, gleichermaßen anwesend und es gibt keinen eindeutigen Wechsel. Eher eine Art gleichzeitige aber geteilte Aufmerksamkeit: die dritte Referenz, die Figur von Tobias hat von beiden die Aufmerksamkeit. Bisweilen verschwimmt es. Meine Figur erkennt seine als jemanden ähnlichen. Immer wieder „gehen“ beide gemeinsam und meine Figur genießt es. Immer wieder komme ich ins Spiel und „sehe“ das Bild der beiden vor dem inneren Auge und lasse mich, bzw. die Figur davon leiten. Eine Art Pas de deux von zweien, die nicht hier her gehören. 

Bemerkenswert ist auch, dass meine Figur zwei Mal von Menschen angesprochen wird. Einmal von einem offensichtlich verlorenen, stark alkoholisierten jungen Mann, der nur gebrochen Deutsch spricht. Weder ich noch meine Figur verstehen, was er will. Ich entscheide, die Figur antworten zu lassen. „Ich weiß nicht“ sagt sie zwei oder drei mal sehr friedlich, sehr langsam und sehr ehrlich. Was soll ich auch tun. Ich habe ihn tatsächlich nicht verstanden und immerhin begleite ich ja schon jemand anderen. Der junge Mann geht weiter.

Kurz darauf spricht mich eine Touristin an. Auf Englisch. Asiatisches Aussehen, sehr teuer gekleidet. „Maximiliansstraße?“ will sie wissen. Wir stehen genau am Anfang der Maximiliansstraße. Ich entschließe mich wieder, die Figur antworten zu lassen. Sie deutet langsam die Maximiliansstraße hoch. Die Touristin will wissen „how many minutes?“. Ich entscheide „zwei“, die Figur hebt langsam die Hand und zeigt zwei Finger. Die Touristin bedankt sich mehrmals auf Englisch und in einer mir unverständlichen Sprache und geht weg.

Was mich im Nachhinein überrascht, ist dass beide Menschen anscheinend das ungewöhnliche Verhalten und Aussehen der Figur gar nicht als „unnormal“ wahrnehmen; im Gegensatz zu allen anderen, die unsere Existenz in ihrer Geschwindigkeit und Zielorientierung größtenteils gar nicht wahrnehmen.

Im Gespräch danach stellen Tobias und ich fest, dass beide Menschen, die meine Figur angesprochen haben – ähnlich wie die Figuren selbst – nicht Teil der „normalen“ Wirklichkeit mit ihrer Geschwindigkeit und ihren Konventionen sind. Der eine rausgefallen, weil verloren und alkoholisiert, die andere, weil offensichtlich fremd und anderes gekleidet. Beide hatten definitiv nicht das Erleben, Teil der um sie herum stattfindenden Realität zu sein. So geht es meiner Figur auch. Vielleicht liegt darin eine Antwort. 

Nach einer Stunde – es hat inzwischen begonnen zu regnen und ist eisig geworden – stupst mich Tobias (er muss es sein, denn es ist definitiv nicht die Energie seiner Figur – dieses „alten“ Mannes in zu großem Anzug und mit Zylinder, den ich jetzt die ganze Zeit in seiner Langsamkeit begleitet habe) von hinten an und deutet auf den U-Bahn Eingang. Ich verstehe, was er will und lasse meine Figur seine Figur zur Toilette im Rathaus führen. Es ist anstrengend. Meine Figur empfindet das als starken Zwang durch mich. Zielgerichtet und schnell. Für meine Figur ist es unangenehm. Ich allerdings weis, dass es nötig ist. 

Die Toilettenfrau ist schon am Schließen; hat schon geputzt. Wir bitten Sie, uns noch kurz abschminken zu dürfen. Sie ist alles andere als begeistert. Ich kann sie gut verstehen, bleibe aber hartnäckig. Wir schminken uns ab, sie lässt uns in Ruhe. Langsam verschwindet meine Figur und ich stelle verschiedene Dinge fest: Ich bin total durchgefroren. Die Figur war das nicht, sie kennt Frieren nicht. Sie hat sich nur den Kragen zugehalten, weil das irgendwie besser war bei Regen und Gegenwind. Ich habe einen irren Hunger. Meine Figur hatte nur irgend wie einen unangenehmen „Stimulus“ im Bauch. Ich bin müde und angestrengt. Meine Figur hat davon gar nichts gespürt. 

Wir bedanken uns bei der verständlicherweise schlecht gelaunten Toilettenfrau und treten raus auf den Marienplatz. Ich schlage Tobias vor, noch einen Kaffee trinken zu gehen und über die Erlebnisse zu reden. Ich bin neugierig. Was hat er, bzw. seine Figur erlebt? Wie hat er oder seine Figur meine Figur wahrgenommen? Wir sitzen eine Stunde im Café, ich stelle Fragen er antwortet mit viel Bedacht. Ich bin ihm unglaublich dankbar. Ich höre die Erfahrungen eines anderen, der feinfühlig, mutig und erfahren genug ist, sich auf dieses Experiment einzulassen. Und: er hat es initiiert. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, das anzubieten. Ein zweites Mal (nach dem Filmen beim letzten Mal) bekommt die jeweilige Figur etwas „wirklicheres“, weil es auf die eine oder andere Art Zeugen gibt. Außerdem geben Tobias’ Antworten mir die Chance, die ganzen Erfahrungen anders zu reflektieren.

Als wir wieder in die U-Bahn steigen wird uns beiden bewusst, dass wir wieder vollkommen „zurück“ sind in der Normalität. Hauptsächlich merken wir es an der Geschwindigkeit und Zielorientiertheit, die uns jetzt auch wieder erfasst hat. Die Figuren kennen das nicht. Woher auch? 

Bevor Tobias am nächsten Tag wieder nach St. Gallen fährt frage ich ihn, ob er wohl Lust hätte, seine Erfahrungen aufzuschreiben und sie mir zu schicken, damit ich sie hier in den Blog veröffentlichen kann. Aufgeschrieben habe er sie schon, sagt er lächelnd und zwei Tage später habe ich die Mail:

"Gerne halte ich die Erkenntnisse meiner 1. Strassenperformance für dich kurz fest:

Als neutrale Figur d. h. schwarz gekleidet mit weissem Gesicht und rötlich gefärbten Lippen tauchte ich ein in eine Welt, die als Parallelwelt in den Strassen von München existiert. Staunend nahm ich Notiz von einem ruhelosen München, dass sich mir fremd und manchmal auch feindselig präsentierte. Auffällig war, wie die Leute an mir vorbei hasteten. Sie schienen ein Ziel zu verfolgen. Irgendwo in der Ferne oder Nähe schien etwas zu sein, zu dem sie sich magisch hingezogen fühlten und das sie alle möglichst schnell erreichen wollten. Hier, wo ich mich befand war jedoch nichts, das sie für beachtenswert empfanden. Meine Person wurde kaum wahrgenommen. Das überraschte mich als Tobias sehr. Als Figur störte es mich nicht. Ich war fremd hier, fühlte jedoch auch nicht das Bedürfnis mit dieser Welt, die mich gerade umgab, in einen wirklichen Dialog zu treten. Das war ein Gefühl von Freiheit aber auch Einsamkeit. Zu meinem "Zwillingsbruder" (die Figur von Tom) auf der anderen Strassenseite bestand eine sehr lose Verbindung. Immerhin gab sie mir jedoch das Gefühl, dass meine Welt, diese Parallelwelt, nicht von mir alleine bevölkert wurde. Ein betrunkener Junkie und eine asiatische Touristin haben die Figur von Tom auch tatsächlich angesprochen. Alle anderen "normalen" Bürger behandelten uns meist wie Luft. Ganz selten erlebte ich ein scheues Lächeln oder einen kurzen Blickkontakt als kurzen Brückenschlag zwischen meiner und der anderen Welt.

Als ich mich auf der Toilette abschminkt hatte und wieder auf die Strassen von München zurückkehrte, war auch die Parallelwelt, in der ich mich eben noch befunden hatte, weg. Ich war wieder im ganz normalen München gelandet und hatte die Parallelwelt mit ihrer anderen Gegenwart weit hinter mir gelassen. Das war eine ganz neue Erfahrung!

Als Playback-Theater Spieler wurde mir auf ganz neue Art bewusst, wie identitätsstiftend Geschichten sind. Aus vielen kleinen Geschichten entsteht die Geschichte einer Gesellschaft. Mit meiner Figur verliess ich die "normale" oder "offizielle" Gesellschaft und tauchte ein in eine Welt mit einer ganz anderen Geschichte. Als meine Figur fühlte ich mich zeitweise wie ein Ausserirdischer, der Mitten in München gelandet war und diese Stadt gerade eben erst kennen lernte. Ich war ganz klar keiner von denen, die da so hastig an mir vorbei gingen oder mit dem Fahrrad vorbei fuhren. Auch wenn ich als schwarzgekleidete Person neutral in Erscheinung treten wollte, so war ich nicht wirklich neutral. Ich fühlte mich als ziemlich alten und etwas gebrechlichen Mann. Für die Erforschung der Geschichte meiner Figur hatte ich als Tobias keine Zeit. Doch mir ist jetzt klar, dass meine Figur auch eine Geschichte hatte, die in dieser Parallelwelt angesiedelt ist, welche ebenfalls in den Strassen von München existiert. Sie wird von den "normalen" Menschen kaum wahrgenommen und gerne auch verdrängt. Mit Junkies, Bettlern oder sonstigen kuriosen Gestalten will kaum jemand etwas zu tun haben. Durch diese Strassenperformance wurde ich jedoch Teil dieser anderen Geschichte. Um diese andere reale Geschichte greifbar und so quasi von Innen kennen zu lernen bedurfte es dieser  Verwandlung.

Danke, Tom, dass du mich dazu inspiriertest und mir diese Reise in das andere München auch ermöglichtest!"

Danke Tobias, für die Anregung, das Experiment und die Rückmeldung. Mich hat das ein gutes Stück weiter gebracht im Verstehen dessen, was ich hier eigentlich tue.

Nachtrag: Einen Tag nach der ersten Mail bekomme ich noch eine zweite von Tobias. Er hatte mir ein Buch mitgebracht  und empfiehlt mir, die Seiten 173 bis 176 zu lesen. Hier ein Auszug:

„Wir verkleiden uns jeden Tag und jede Nacht unseres Lebens: formelle und informelle Kleidungen, sexy, angeberisch, feminin, maskulin, weit, eng, sommerlich, winterlich, Verkleidungen, die unserem Alter, unserer Kultur und unserer Subkultur entsprechen. [...] Wir haben Verkleidungen für unsere Wohnung, unsere Fenster und Türen, und alle diese Verkleidungen erinnern uns daran, wer wir vermeintlich sind. Wir haben uns so an unsere äußere Erscheinung als Definition und Ausdruck unserer Identität gewöhnt, dass wir, wenn wir sie ändern und uns etwas Anderes anziehen, eine ungewöhnliche Persönlichkeit aus unserem Innersten auftauchen lassen. Und dieses „Coming-Out“ kann etwas erstaunlich befreiendes haben. 

Wir können mit unserem Leben spielen [...] und dann zu unserer vertrauten Identität zurückkehren. Diese wird auf uns warten, bereit, uns jederzeit wieder aufzunehmen, wenn wir das Bedürfnis danach haben.“ 

[Aus: Nina Wise – „Ein großartiges, ungewöhnliches, glückliches, neues Leben“ – 2006, Arbor Verlag]

Sonntag, 23. Dezember 2012

Die Beziehung zwischen ihm und mir...

Wo anfangen? 

Es ist so viel! Am besten am Anfang. Sonntag Morgen um 7:45 Uhr am Odeonsplatz in München. U-Bahn Zwischengeschoß. Es hat geregnet und es ist nass. Im Vorfeld gab es viele Ideen, was heute alles passieren sollte. Der ursprüngliche Plan hatte gar nichts mit der Figur zu tun sondern mit Weihnachten. Über die Wochen blieb am Ende nur eines: am Sonntag Morgen vor Weihnachten in der leeren Stadt verwandeln. Und was auch blieb war die Idee, "ihn" zu filmen. Je länger ich am Abend davor darüber nachdenke, desto klarer wird mir, was für ein Experiment alleine das ist. Alle anderen Aufgaben, die ich ihm stellen wollte sind damit vom Tisch. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern, um was es eigentlich geht: um das Erleben. Nicht um Darstellen, nicht um ein fertige Bild, nicht um Wirkung.

Um 8:00 kommt -wie vereinbart- Sarah, eine Freundin, der ich soweit vertraue, dass ich sie gefragt habe, ob sie mich/ ihn filmen will. Ursprünglich, weil ich ein bestimmtes Bild mit "ihm" vor Augen hatte, aber -wie gesagt- darum geht es dann schon lange nicht mehr. 

Im Zwischengeschoss sind U-Bahn Wachen unterwegs, also wird nichts daraus, mich hier, geschützt vor Wind und Nässe zu verwandle. Ich begrüße Sarah, wir gehen zum Dianatempel im Hofgarten. Ich merke, wie unsicher ich bin. Die Verwandlung und „seine“ Existenz so bezeugen zu lassen, so bewusst danach zu fragen, macht mich nervös. 

Meine Hoffnung, dass es unter dem Dach des runden Dianatempels trocken ist, wird nicht erfüllt. Egal. Zusätzlich müssen wir über die schweren Absperrketten steigen, die uns vor Dachlawinen warnen. Kurz beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Wird er da raus kommen? Ich muss mich aktiv daran erinnern, dass das sein Problem ist.

Ich beginne, mich umzuziehen, Sarah beginnt zu filmen. Es ist komisch, gefilmt zu werden. Bei etwas, dass immer nur als Selbstexperiment gedacht war. Es geht nicht um Wirkung. Und dennoch verändert es alles. Ich mache alles noch bewusster. Als Thomas stört mich das Filmen auch noch nicht. Aber im laufe der dann folgenden 10 oder 15 Minuten -in denen er entsteht- wird klar: das beobachtet und gefilmt Werden ist eine riesige Herausforderung für ihn.


© Sarah Schill

Zuerst steht jedoch eine andere Aufgabe an: aus dem runden Tempel mit seinen acht Torbögen herauskommen. Jeder Bogen ist mit einer schweren, schaukelnden Eisenkette verhängt. Für ihn ein unüberwindbares Hindernis.

Er hat keinerlei Impuls, über die Kette zu steigen. Ich trete kurz ein Wenig in den Vordergrund. Eine Sekunde habe ich Sorge, dass seine gesamte heutige Existenz nur im kleinen Rund des Dianatempels stattfinden könnte. Innerlich muss ich grinsen. Er steht immer noch vor einer der Ketten und schaut raus. Ich "interveniere" und gebe ihm den Impuls, über die Kette zu steigen. Es ist umständlich und gefährlich.

Das mit dem ich -also Tom- und er -also die Figur- ist so eine Sache. Ich bin immer da. ab dem Ende der Verwandlung bis zum Entschluss, wieder zu mir zu werden. Ich kann komplett zurücktreten. Dann entscheidet er; und ich habe eine Art versteckte Beobachterposition. Er erlebt, ich erlebe aus seiner Perspektive mit. Oft komme ich in "mein" Bewusstsein und muss mich dann aktiv darauf fokussieren, er zu sein, oder besser: ihn sein zu lassen. In Situationen, in denen er einen Impuls braucht, oder in denen es gefährlich wird kann ich allerdings weniger oder mehr in den Vordergrund treten. Der Wechsel ist fließend und stufenlos und klappt dieses Mal sehr gut.


© Sarah Schill

Muss er auch, denn ich will, dass es von ihm ein paar gute Fotos und Filmsequenzen gibt. Sarah macht das super. Hält sich komplett im Hintergrund. Nur ganz selten geht sie vor ihm und macht Aufnahmen von vorne oder sogar aus der Nähe; von seinem Gesicht. Für ihn eine Qual. Ich zwinge ihn, Sarah nahe ran zu lassen. Es ist fast Gewalt, die ich ihm antue. Er fühlt sich verraten. Verraten von mir. Tatsächlich kommt es mir jetzt, wo ich im Café sitze und meine Erlebnisse reflektiere vor, wie ein böser Vertrauensbruch. Dieser Scheue, traurige, vorsichtige Mensch, abhängig von mir (denn nur so kommt er in seine Existenz) wird von just dem einzigen, den er hat, gezwungen, einen anderen Menschen so nah ran zu lassen. An einer bestimmten Stelle kommen ihm Tränen. Er kann es nicht fassen, aber er lässt es zu, vielleicht, weil er weiß, dass er keine Wahl hat.

Sarah erzählt mir danach, als wir noch einen Kaffee trinken, wie unangenehm es ihr war trotz der klaren Zeichen der Unsicherheit und der Abneigung so nah ran zu gehen und ihn so zu verfolgen. Ich bin ihr dankbar. Aus vielen Gründen. Zum einen, weil die Beobachtung das Erleben der Verwandlung (hin und zurück) noch bewusster macht. Eine Zeugin bringt die Außensicht klarer zum Vorschein. Die Folge für mich: ich muss mich noch klarer entscheiden, muss mich noch bewusster darauf einlassen.

Ein weiterer Grund, dass ich mich sehr freue, dass Sarah filmt ist, weil es "ihm" eine komplett neue Erfahrung bringt. Das Gefühl "ausgeliefert" zu sein. Es verändert die Beziehung zwischen mir und ihm. Ich zwinge ihn zu etwas, was ihm höllisch unangenehm ist. Was ihn wütend macht. Und diese Wut, auch wenn sie nur in Momenten verzweifelter Trauer ihren Ausdruck finden, ist eine komplett neue Erfahrung. 


© Sarah Schill

Der Weg, den er heute zurücklegt ist sehr kurz. In einer halben Stunde vom Hofgarten auf den Odeonsplatz, dort verweilen und dann zurück zum Eingang des Herkulessaals. Unter dem schützenden Vordach öffne ich meinen Koffer, ziehe mich um und schminke mich ab.

Nach der Rückverwandlung macht es ein weiteres Mal einen riesiger Unterschied zu wissen, dass da wer ist, der das alles aus der Nähe und bewusst miterlebt und bezeugt hat. Ich bin dankbar, dass jemand da ist, mit dem ich darüber reden kann. Obwohl dass erst mal gar nicht möglich ist, weil ich die Spannung, unter der ich stehe loswerden muss. Ich komme mir vor, als hätte ich ihn betrogen. Als hätte ich ihn missbraucht. Oder besser sein Vertrauen und seine Abhängigkeit missbraucht. Das Wissen, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt hilft nicht. Und außerdem: es gibt ihn ja; zumindest zeitweise.

Also: diesen Gefühlen nachspüren. Dem Mitgefühl mit ihm, das noch eine ganze Weile anhält. Meinem Gefühl, fast schon gewalttätig gewesen zu sein, auf jeden Fall aber übergriffig. Nach einer Weile fällt auch dieses Gefühl ab; nachdem ich mit Sarah reden kann. Erzählen kann. Ihre Erlebnisse anhören kann; Schilderungen, die mein und sein Erleben bestätigen.

Hilfreich ist auch, bezeugt zu bekommen, was bisher ja nur als Selbstexperiment im Raum stand. Ein Erleben, dass ich mit niemandem teilen konnte. Ich kann es beschreiben in einem Blog, reflektieren im Gespräch mit anderen, aber es bleibt ein Wiedergeben einer Wirklichkeit, die so komplett surreal ist, dass sie mich immer wieder beängstigt. Das ist von heute ab anders. Ich bekomme Rückmeldung. Von Außen. Von einem Menschen, dem ich vertraue. Und die deckt sich mit dem, was ich, bzw. er in dieser Zeit der Parallel-Existenz erleben. Das ist beruhigend. Und: es gibt Bilder und Videos. Die Bilder bekomme ich später. Ich bin gespannt. Im Augenblick bin ich mir gar nicht sicher, ob ich sie sehen will. Sie könnten eine weitere Perspektive für mich bringen, von der ich nicht weiß, ob sie nicht wieder alles verändert. Bisher kennt er (und ich) nur sein Spiegelbild. Für ihn wird sich das nicht ändern, außer ich zwinge ihn irgendwann, in seiner Existenz Bilder oder Filme von ihm anzuschauen. Für mich wird sich etwas ändern, weil ich dann Bilder von ihm habe, ohne sie durch ihn wahrzunehmen, wie das etwa mit Spiegelbildern in Schaufenstern ist, die ja zu kompletten Verwandlung nötig sind.

Oder besser gesagt: sie waren es. Bisher habe ich die Erfahrung gemacht, dass er erst vollkommen er ist, wenn er sein Spiegelbild gesehen hat. Diesmal war es anders. Vielleicht lag es an der Außenperspektive durch die Kamera. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war er schon in dem Moment komplett da, in dem ich den Koffer nach dem Umziehen geschlossen habe. Da muss ich ihn zwingen, nochmal zu gucken, ob nicht etwas von mir liegengeblieben ist. Ihn interessiert das nicht. Er will einfach nur losgehen.


© Sarah Schill

Viel Neues. Für ihn. Für mich. Für die "Beziehung" zwischen ihm und mir. Erst durch das Experiment des Filmens, des bezeugt Werdens und des penetrant verfolgt Werdens wird mir überhaupt bewusst, dass es sie gibt und welche Züge sie hat, die Beziehung zwischen mir und ihm. Und wie verletzlich sie ist. 

Ich bitte Sarah beim Kaffee danach, mir die Bilder zu schicken und einen Film zusammenzuschneiden. Sie sagt ja. Ich bin Froh. Jetzt wird mir klar, dass ich schon die Bilder heikel finde. Aber das Filmmaterial sichten und zusammenschneiden? Danke, dass kann ich nicht. Das würde mich so in die Außenperspektive und auf die Eben der "Wirkung" bringen, dass ich mir sorgen machen würde, ob ich danach jemals wieder in diese Parallele Wirklichkeit eintauchen kann, ohne permanent die Wirkung als Störfaktor zu haben. Und das fühlt sich so an, als wäre es ein noch größerer Verrat an ihm und meine Beziehung zu ihm, als es die Aktion heute schon war. Ich glaube, er muss jetzt erst mal wieder ein Bisschen Vertrauen zu mir fassen:-)

Als ich Sarah verabschiedet habe, beschließe ich, mich noch kurz in ein Café zu setzen und die Gedanken für den Blog aufzuschreiben. Jetzt, über eine Stunde nach der Rückverwandlung, nach dem Gespräch mit Sarah und nach der zweiten Tasse Tee, bei Weihnachtsmusik, die im Café läuft komme ich langsam zur Ruhe. Das war das aufwühlendste Erlebnis mit ihm und für ihn. Bisher.

14:30 Uhr: Gerade sind die Fotos gekommen...

© alle Bilder: Sarah Schill, München


Danke an: Sarah. Für die Mischung aus großem Einfühlungsvermögen und Hartnäckigkeit und für die Offenheit; hat ihn und mich weitergebracht...


Samstag, 7. Juli 2012

Intermezzo - München

Eine Art öffentliches Training

Eigentlich hätte es eine weitere Episode der Figur werden sollen. Nur: es hat 30 Grad und die Figur gibt es nur mit mindestens drei Schichten Kleidung und Schal. Das wäre der Wahnsinn. Also beschließe ich, dass es etwas anderes sein wird; einfach nur, weil ich Lust habe zu laufen.

Schon vor einer Weile hatte ich die Idee, mit ein paar anderen komplett schwarz bekleidet und schwarz geschminkt einen Walk Act zu machen. Der Grundgedanke: kein direkter Kontakt zu Leuten, kein Körperkontakt untereinander, keine Requisiten. In der Öffentlichkeit schminken und das machen was Ruth Zaporah in ihrer Action Theater® Practice macht: Nicht auf die Welt reagieren, sondern die Reize von außen auf die innere Erlebniswelt treffen lassen und die dadurch ausgelöste Veränderung über den Körper nach außen bringen. So ungefähr zumindest habe ich es aus den Trainings mit ihr mitgenommen. „Don’t react, respond!“; keine Konzepte, nur direktes Erleben; kein Kopfkino, nur Körperimpulse.

Keiner hat zeit, also probiere ich es alleine aus. Im Gegensatz zur Figur also ein „neutrales“ Äußeres, das dennoch Kostüm und Maske ist und so die „Privatperson“ dahinter zurück treten kann. Eine art neutrale Ganzkörpermaske. Die Aufgabe wird sein, nur körperlich wahrzunehmen, was sich verändert und den Impulsen, die daraus entstehen nachzugeben.

Ganz so ist es dann aber doch nicht. Ich gehe in den Park am Sendlinger Tor und schminke mich auf einer Parkbank. Schminke und Schwamm stecke ich ein, als ich fertig bin. Den schwarzen Anzug trage ich schon. Ich setze eine Melone auf und ziehe mir schwarze Handschuhe an. Sonst habe ich nichts dabei, muss also im Gegensatz zur Figur keinen Koffer und auch sonst nichts tragen.

Noch bevor ich eine Chance habe, mein Spiegelbild ganz zu sehen geht es los. Es ist ein sehr klares inneres Erleben: schlecht gelaunt, getrieben, introvertiert und misantrop. Ich achte zuerst auf meinen Atem. Und schon nach den ersten Zügen wird das ausatmen geräuschvoll. Eine Art genervtes Schnaufen. Ich gehe die Sonnenstraße lang und blöffe in einer art stimmlos-geschnauften unartikulierten Stimme die Passanten an, wenn sie mir im Weg sind. Ich grummele vor mich hin und gehe schnell und hektisch. Meine Unterarme schlendern unkoordiniert mit. Ich gehe gebückt, Blick nach unten, den Hals angezogen, der Mund halboffen mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Immer wieder kommen angewiderte Laute aus meinem Mund und ich artikuliere abwehrend mit meinen Armen. Beim gehen kommen immer wieder Bewegungsimpulse die zu überraschenden Richtungswechseln führen. Überraschend auch für die Passanten um mich herum.

So laufe ich ein Stunde durch die überfüllte Innenstadt, schnauze in einer Fantasiesprache wahllos Passanten an und brabbel mies gelaunt Laute vor mich hin.

Auf eine Art ist es angenehm unspektakulär. Ich (der private Thomas) bin im Hintergrund und beobachte alles genussvoll. Wie auf dem Rücksitz eines Autos, den Fahrer beobachtend und der Fahrer bin ich selbst. Immer wieder „falle ich raus“; bin ich ich, der private Thomas. Der Weg zurück ins Innenleben der maskierten Person geht über den Atem. Auf den Atem achten und ihn sich entwickeln lassen.

Streckenweise nehme ich die Umwelt kaum wahr. Überquere den Altstadtring am Isartor ohne zu gucken. Blöffe sogar einen Security Menschen neben einer teuren schwarzen Limousine in der Maximillliansstraße an, der mich böse anschaut. Angst habe ich keine. Die Maske funktioniert; und zwar in erster Linie als Schutz für mich; als „Freibrief“.

Die Reaktionen der Leute sind – so ich sie mitbekomme – sehr unterschiedlich. Manche lachen über den offen ausgelebten Ekel und das offen gezeigte angenervt sein. Manche erschrecken, einige weichen aus. Solange ich in der „Maske“ bin ist mir das alles gleich.

Irgendwann komme ich am Marienplatz an. Im Innenhof des Rathauses ist eine öffentliche Toilette. Ich zahle 50 Cent gehe durchs Drehkreuz und wasche mir am Wachbecken die Farbe aus dem Gesicht. Mit dem Sakko und der Melone in der Hand verlasse ich die Toilette und trete in die warm Sonne, die ich erst jetzt wieder wahrnehme. Die innere Anspannung, die Hektik, die „schlechte“ Laune fallen ab und ich werde sehr ruhig. Ich bin wieder der „normale“ Thomas.

Jetzt, eine Stunde später, kommt es mir vor wie eine Art öffentliches Training, weniger wie eine Performance. Mag sein, dass es von Außen anders wahrgenommen wurde, aber für mich war es nur die Aufgabe im Innen zu bleiben, ohne Konzepten oder Vorstellungen nachzugehen. Wenn sie kamen habe ich sie genommen, vielleicht kurz „gespielt“ und dann weiterziehen lassen. Der Schlüssel dazu war jedes Mal der Atem und das Spüren des Körpers. Es ist Training. Eben nur in einer Umgebung die nicht „geschützt“ ist. Die Passanten waren dabei kein Publikum, sondern eben diese Umgebung. Ein sehr pro-aktiver Kontext. Vielleicht sogar Mitspieler...