Oder: Sehr langsam, sehr alt und sehr frei.
Es war eine längere Pause. Und -wie bisher jedes Mal- gibt es diesen kurzen Moment der Entscheidung. Sich auf einem öffentlichen Platz (diesmal das Max II Denkmal in München) schminken und umziehen ist etwas, wofür man sich entscheiden muss, sonst tut man es nicht. Dennoch ging die Verwandlung diesmal vorher los. Vielleicht ging sie auch schon die letzten male vorher los und ich habe es nur nicht gemerkt, weil ich viel zu nervös war und viel zu sehr mit der Entscheidung an sich beschäftigt. Diesmal blieb die Nervosität aus. Und so bin ich mit einem Becher Tee in der Hand vom Isartor losgelaufen auf der Suche nach einem guten Ort für die Verwandlung.
Schon während dieser Suche verändert sich die Wahrnehmung und die Geschwindigkeit. Ich (noch bin ich ich) werde langsamer und aufmerksamer. Nehme Häuser nicht mehr nur noch als Grenze meiner Bewegungsfreiheit wahr. Spüre die Präsenz anderer Menschen, ohne sie ansehen zu müssen. Es ist, als würden sich meine Sinne auf die Verwandlung vorbereiten.
Schon von der Ferne ist klar: Die Stufen des Denkmals sind der Ort für Heute. In der Mitte einer Kreuzung auf einer langgezogenen Verkehrsinsel. Trambahnschienen und die Haltestellen trennen das Denkmal von der Straße. Außer einem Touristen, der das Denkmal fotografiert ist niemand auf der Verkehrsinsel. Die Stufen des Denkmals sind ideal, um sich zu schminken und umzuziehen.
Ich setze mich auf die oberste Stufe und schaue eine Weile über die Maximiliansstraße in die Innenstadt. Ich lasse den Oft auf mich wirken. Wenig Menschen, alle mit einem gewissen Abstand. Das ist gut und wichtig. Ich möchte nicht schon während der Verwandlung Kontakt aufgezwungen bekommen. Beobachtet werden ist in Ordnung, das ist Teil der Verwandlung. Es ist eine Art Ritual. Schritt für Schritt. Sehr bewusst. Aber eben ungestört durch direkten Kontakt, wenn möglich.
7 Trambahnen später bin ich fertig. Er ist da. Noch nicht ganz. Halb ich, halb er packen meine Klamotten in den Koffer, räumen Geld, Karten und mein abgeschaltetes Telefon von meiner in seine Hose. Ich breche eine Regel: Ich mache ein Foto von ihm. Solange ich noch da bin ist das in Ordnung.
Wie bei den letzten Malen ist die Verwandlung abgeschlossen, als er sein Spiegelbild in einem Fenster sieht. Die Wirkung ist lange nicht so stark, wie die letzten Male. Er sieht sich, er ist er. Ganz unspektakulär. Ich "stehe bereit", falls Situationen auftauchen, die er nicht lösen kann, verschwinde aber bisweilen ganz.
Wie schaffe ich es, zu "verschwinden"? Meinen Körper wahrnehmen. Reinspüren, was da ist und passiert. Diesmal ist es erstaunlich. Zwanzig Schritte und ich, oder besser: er hat keinen Grund mehr sich weiter zu bewegen. Er steht. Das erste Mal heute und es wird noch öfter passieren.
Die einzigen Impulse, weiter zu gehen kommen von Passanten. Er ist schüchtern. Kein Blickkontakt. Alle sind wahnsinnig schnell. Und laut. Er schaut sich Gebäude und Bäume an. vorübergehende Passanten machen ihm Angst. Er muss ausweichen. Ein Grund, sich zu bewegen. Der einzige. Bis er sie aus sicherem Abstand anschauen kann, sind sie meistens schon weg. Wenn, dann sieht er sie von hinten.
90 Minuten. Vielleicht ein Kilometer. Die Schritte sind ein oder zwei Zentimeter lang. Die Füße verlassen den Boden nicht wenn er sich bewegt. Wenn er sich überhaupt bewegt. Minutenlang steht er da. Kein Antrieb, weiter zu gehen. Wozu auch? Und wohin denn auch?
Immer wieder muss ich mich daran erinnern, nicht zu übernehmen. Ich erkenne es, weil ich mich beim Denken erwische. Beim Versuch, etwas vorzugeben. Dann konzentriere ich mich auf meine Körperwahrnehmung. Und was ich, bzw. er da spürt ist neu: Die Schüchternheit und die Scheu anderen Menschen gegenüber sind weiterhin da. Aber sie stehen nicht im Vordergrund. Es ist Müdigkeit. Antriebslosigkeit. Sein Körper ist schwach. Gebrechlich. Wenn er sich nicht darauf konzentriert, geben seine Beine nach. Es ist nicht unangenehm oder bedrohlich. Es ist einfach so. Es gibt schlichtweg keinen Grund, weswegen er sich bewegen sollte. Es gibt kein Ziel. Es gibt keinen Ort, wo er hingehört oder hin will. Häuser sind Gebilde. Autos sind Gebilde. Menschen sind Gebilde. Interessant; aber auch nicht mehr und nicht weniger.
In dem Moment, in dem ich einspringen will, weil jeder Impuls in ihm erstorben ist, und ihm eine Richtung geben will, sieht er an einer Kreuzung am Ende einer langen Straße Grüne Hügel und große Bäume. Da zieht es ihn hin. Schritt für Schritt, Zentimeter für Zentimeter. Die Bäume scheinen ewig weit weg zu sein, denke ich. Er denkt gar nicht. Er geht los. Er spürt. Jahrhunderte gelebten Lebens. Hier sein und vergessen haben, weswegen. Nicht mehr wissen, wie er hier angekommen ist. Weitergehen, Schritt für Schritt, Zentimeter für Zentimeter. Irgendetwas ist dort. Nichts, was er sehen will. Nichts, was irgend eine Wichtigkeit hätte. Aber es lohnt sich, dort hin zu gehen.
Irgendwann kommt er an. Zwischen ihm und den Bäumen eine Straße (leer, zum Glück, denn er geht einfach weiter). Zentimeter für Zentimeter geht er auf eine Brüstung mit Steinmauer zu. Dahinter, 5 Meter unter ihm, fließt die Isar. Er stellt den Koffer ab und schaut hinunter.
Nach einer Weile setzt er sich auf eine Bank. Blickrichtung parallel zu Isar. Zwei Welten. Genau in der Mitte geteilt. Links die Isarauen. Grün. Langsam. Fließend. Rechts: Die Straße. Grau. Häuserwände. Laut. Er sitzt da. Regungslos. Schaut in die zwei Welten, die er nicht zusammen bekommt. Er lässt sie sein, wie sie sind. Nebeneinander. Trauer in der Mitte. Sie breitet sich in ihm aus, erfüllt ihn. Tränen laufen seine Wangen hinab. Es ist nicht schlimm, nicht unangenehm. Es ist, wie es ist. Hier. Jetzt. Etwas anderes gibt es nicht.
Je länger er die beiden Welten nebeneinander existieren lässt, desto zweidimensionaler werden sie. Desto unrealer werden beide. Die Grenzen verschwimmen. Die zwischen den Welten; und die zwischen ihm und der Welt. Es gibt nur ihn. Es gibt ihn nicht.
Irgend wann sitze ich da. Plötzlich. Schlagartig. Mir ist klar: Abschminken, umziehen, zurück verwandeln. Jetzt. Genau auf dieser Bank. Obwohl ich äußerlich noch er bin, ist er weg.
Die Rückverwandlung ist unspektakulär. Als ich wieder ich bin merke ich, wie dringend ich auf die Toilette muss. Es schmerzt bereits. Ich gehe so schnell ich kann zur Galerie in der Bayerischen Versicherungskammer, lasse meinen Koffer an der Garderobe am Eingang stehen und verschwinde unter den kritischen Blicken des Pförtners schleunigst in der Toilette.
Jetzt sitze ich im Café Dukatz im Lehel und weiß, dass er weiter leben wird. Während der Verwandlung war ich mir nicht mehr sicher. Eben weil sie diesmal ohne Nervosität und ohne Angst funktioniert hat. Und weil er sich ohne großen Schock oder große Gefühle erkannt hat als er sich in der Schaufensterscheibe gesehen hat.
Vielleicht liegt es daran, dass ich mich, bzw. ihn nicht der Präsenz vieler Menschen ausgesetzt habe, wie das bisher in den verschiedenen Innenstädten der Fall war. Vielleicht war das die ersten Male nötig, damit er seine Schüchternheit und Menschenscheue kennenlernen konnte. Ich weiß es nicht. Heute hat er sich in seiner Ungebundenheit, in seiner Gebrechlichkeit und in seiner Langsamkeit kennen gelernt, ohne zu oft von schnellen, lauten und bedrohlichen Menschen abgelenkt zu sein.
Es gibt so viel mehr, als es gibt.
Was passiert, wenn man sich in aller Öffentlichkeit in einen anderen verwandelt? Wer ist "er" und wo bleibt man selbst? Wie verändert sich die Wahrnehmung? Wie sieht die Interaktion zwischen "ihm" und einem selbst aus? Welche Rolle spielen die anderen, die Passanten, das "unfreiwillige" Publikum? Erzeugt es einen "Bruch" in der Wirklichkeit? All diese Fragen sind der Ausgangspunkt eines Performance- und Selbstexperiments von Tom Tiller.